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Die Prophezeiung der Seraphim

Die Prophezeiung der Seraphim

Titel: Die Prophezeiung der Seraphim Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mascha Vassena
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wunderte sich selbst darüber, dass er wirklich so zäh war, wie Prudhomme versprochen hatte. Henri hingegen begann nach einigen Wochen in Paris zu husten. Er wurde noch dünner als zuvor und schleppte sich mit letzter Kraft durch die Tage. Anfang Juni konnte er nicht mehr arbeiten und war zu schwach, um sich von seinem Strohsack zu erheben. Sein Husten klang wie heiseres Bellen und in seiner Lunge rasselte es. Givret tobte, weil er sein schönes Geld für einen Burschen verschwendet hatte, der nun die Unverschämtheit besaß, einfach zu sterben.
    Zwar flehte Ruben ihn an, einen Arzt kommen zu lassen, aber der Meister hatte nicht die Absicht, noch mehr Geld zu verlieren. Henri könne froh sein, dass er ihn nicht auf die Straße werfe und dort verrecken lasse, war die einzige Antwort, die Ruben zu hören bekam.
    Sobald er abends frei hatte, eilte Ruben an Henris Lager, um bei seinem Freund zu wachen. Henri war der einzige Mensch, der ihm etwas bedeutete, sein kleiner Bruder – was sollte er ohne ihn anfangen? Eines Nachts Mitte Juni war es so weit. Henri glühte vor Fieber, wurde aber zugleich von Schüttelfrost hin und her geworfen. Ruben wusste, dass er die Nacht nicht überleben würde.
    »Mir ist so kalt«, murmelte Henri immer wieder, seine Zähne schlugen aufeinander.
    In Rubens Ohren klang es wie das Klappern von Gebeinen, und er versuchte, den Jüngeren abzulenken: »Wenn du wieder gesund bist, nehmen wir ein Schiff nach Hispaniola, da ist’s immer warm und du wirst wieder ganz gesund.«
    In dem schwachen Mondlicht, das durch die Luke des Verschlags auf Henri fiel, sah er, wie schmal und durchsichtig das Gesicht seines Freundes geworden war. Als er ihm die Hand auf die Stirn legte, spürte er, dass kaum noch Leben in ihm steckte. Verzweifelt dachte er an seine Tiere, daran, wie er auch bei ihnen gefühlt hatte, ob sie leben oder sterben würden. Wie rasch sich viele erholt hatten, wenn er sie eine Zeit lang gehalten hatte, und dass er stets gespürt hatte, wie sie ihre Lebenskraft zurückerlangten. Ohne weiter nachzudenken kroch er neben Henri und umschlang dessen zerbrechliche Rippen und spitze Schultern. Immer wieder wurde Henri von Hustenanfällen geschüttelt, und es war, als wollte er sich aus Rubens Umklammerung befreien. Aber der hielt seinen Freund umfangen, wie um das Leben festzuhalten, das aus dem ausgemergelten Körper sickerte.
    Henri durfte nicht, er durfte einfach nicht sterben! Noch nie hatte Ruben etwas so sehr gewollt. Er stellte sich Henri gesund vor, mit runden Wangen und einem Grinsen im Gesicht. Und dann geschah etwas. Ruben wurde kalt und es fühlte sich an, als saugte etwas an ihm, an seinem Inneren. Immer kälter wurde ihm, bald hatte er kein Gefühl mehr in den Händen und konnte sich nicht einmal mehr bewegen. Angst ergriff ihn, und er wollte Henri loslassen. Was, wenn dieser ihn mit sich in den Tod zog? Doch er konnte seine Arme nicht öffnen. So lagen sie in der rußigen Dunkelheit, während das Mondlicht über ihre Körper wanderte und die Kälte immer tiefer in Ruben eindrang, bis er das Bewusstsein verlor.
    Als er erwachte, füllte das graue Licht der Morgendämmerung den kleinen Raum. Ruben fror nicht mehr, und er konnte Arme und Beine wieder bewegen. Doch Henri neben ihm regte sich nicht. Ängstlich legte Ruben sein Ohr auf die schmale Brust. Das dumpfe Klopfen von Henris Herz erfüllte ihn mit tiefer Freude. Er strich seinem Freund die schweißverklebten Haare aus der Stirn, und obwohl dessen Augen noch geschlossen waren, hob und senkte sich seine Brust gleichmäßig.
    Ruben rollte sich auf den Rücken und starrte zu den schwarzen Deckenbalken hinauf. Er lebte, und das war ein köstliches Gefühl, das ihn vollständig durchdrang. Henri lebte auch. Und Ruben war sich ganz sicher, dass er das bewirkt hatte. Er hatte Henri zurückgeholt, auch wenn er nicht wusste, wie er das angestellt hatte.
    Ruben grinste, bis ihm die Mundwinkel wehtaten. Dann drehte er sich auf die Seite und betrachtete Henri. Als spürte der Freund seinen Blick, öffnete er die Lider und sah ihn mit klaren Augen an. »Ich hab von dir geträumt«, sagte er leise. »Du hast mich gesund gemacht, nicht wahr?« Ruben nickte schweigend.
    Meister Givret war so erleichtert, seine Investition nicht verloren zu haben, dass er fortan seinen beiden Lehrlingen ebenfalls einen morgendlichen Becher Milchkaffee spendierte, um sie bei Kräften zu halten. Mit Schlägen und Tritten war er weiterhin freigiebig – daran

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