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Die Prophezeiung der Seraphim

Die Prophezeiung der Seraphim

Titel: Die Prophezeiung der Seraphim Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mascha Vassena
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geradeaus und taten, als hörten sie die Beleidigungen nicht, die der Kutsche nachgerufen wurden.
    Julie legte einen Finger zwischen die Seiten, klappte das Buch zu und stand auf. Sie schürzte die Lippen, als die Kutsche das Gestell des Bücherverleihers umwarf und die Bücher durch die Luft wirbelten wie seltsame Vögel. Ein mutiger Passant griff sich kurzerhand zwei Winterbirnen von einem Stand und schleuderte sie gegen die Seitenwand der Equipage, dass der Saft nur so spritzte. »Schmarotzer!«, brüllte jemand. »Blutsauger!«
    Julie ahnte, wohin die Kutsche wollte, und als das Gefährt vor dem Geschäft ihres Vaters hielt, war ihr das zutiefst peinlich. Trotzdem trat sie näher, um das Wappen auf der Tür zu betrachten: zwei goldene Löwen auf der einen und eine Burg auf der anderen Seite, eingerahmt von schwarzen Adlerschwingen.
    Die Lakaien sprangen ab, klappten den Tritt herunter und öffneten den Schlag. Der Kutsche entstieg die schönste Frau, die Julie je gesehen hatte. Sie war elfenhaft schlank, ihre Haut milchweiß. Ihre Augen dagegen glänzten wie schwarze Edelsteine und schienen eher zu einem Tier als zu einem Menschen zu gehören. Aber noch etwas war eigenartig an der Frau, und es dauerte einige Augenblicke, bis Julie bewusst wurde, was es war: Sie besaß keine Aureole.
    Als sie Julie passierte, streiften die Tieraugen über sie hinweg. Ein Hauch exotischer Gewürze wehte hinter der Erscheinung her, die nun im Inneren des Ladens verschwand. Erst als Julie den Blick erneut der Kutsche zuwandte, bemerkte sie, dass noch jemand ausgestiegen war. Ein junger Mann, der sich ebenso elegant bewegte wie die Frau. Er ging aber nicht an Julie vorbei, sondern blieb vor ihr stehen, zog einen Mundwinkel hoch und betrachtete sie. Ihr Herz klopfte plötzlich sehr schnell, aber sie hielt seinem Blick stand. Der Schein um seine Gestalt war ungewöhnlich – ein dunkles Violett.
    »Ich bin Nicolas d’Ardevon. Und wie heißt Ihr?« Seine Stimme klang weich, und Julie hatte den Eindruck, als hätte er ihr mit der Hand über die Wange gestrichen, obwohl er sich nicht bewegt hatte und abwartend auf sie herabblickte. Sie blinzelte, als wäre sie soeben erwacht, und ärgerte sich, dass ihr Kopf völlig leer war. Normalerweise war sie um eine Antwort nicht verlegen, aber jetzt wunderte sie sich, dass tatsächlich Worte aus ihrem Mund kamen, als sie die Lippen bewegte.
    »Julie Lagarde.« Großartig, es war ihr gelungen, ihren Namen zu sagen, das hatte ihn sicher beeindruckt. Aber was lag ihr überhaupt daran? Nun lächelte er auch noch, und Julie fand ihn entsetzlich eingebildet mit seinen weißen Zähnen und der ebenso weißen Halsbinde. »Im Übrigen geht es Euch nichts an, wie ich heiße«, fügte sie hinzu und wünschte, diese Antwort wäre ihr früher eingefallen. Eigentlich sollte sie zu ihrer Mutter ins Haus gehen und diesen Nicolas d’Ardevon einfach stehen lassen. Aber sie blieb, lehnte sich an die Hauswand und sah ihm in die Augen. Sie waren grau, und es machte schwindelig, hineinzublicken.
    »Da habt Ihr wohl recht, Mademoiselle, aber da Ihr mir Euren Namen gerade erst mitgeteilt habt, werdet Ihr nicht von mir verlangen, ihn schon wieder zu vergessen.«
    Der junge Mann zwinkerte ihr zu und lächelte noch selbstgefälliger als vorher. Julies Knie fühlten sich ein wenig zittrig an.
    »Was macht ein so reizendes Wesen wie Ihr an solch einem Ort?«
    »Seht Euch vor, Monsieur, St. Marcel ist ein gefährlicher Platz für Leute wie Euch. Ihr könntet Eure Börse leicht gegen ein paar Beulen eintauschen, so etwas geht hier schnell, vor allem zurzeit. Die Leute im Viertel sind nicht gut auf den Adel zu sprechen.«
    Nicolas’ Mundwinkel zuckte, dann entgegnete er ruhig: »Dann bringen wir uns wohl besser in Sicherheit. Meine Mutter wird sich bereits fragen, ob man mich entführt hat – und diese Freude soll doch nicht zu lange anhalten.«
    Julie schnappte nach Luft. »Das war Eure Mutter?«
    »Die Comtesse d’Ardevon. Sie ist recht beeindruckend, nicht wahr?«, sagte Nicolas, hielt Julie die Ladentür auf und trat hinter ihr ein.
    Seine Mutter stand mit Julies Vater vor dem Regal mit den Automatenuhren, die Julie besonders liebte. Da gab es Zifferblätter, über die winzige Soldaten zogen, Götterfiguren, die zur vollen Stunde mit Miniaturhämmerchen auf Glocken schlugen und be rittene Jagdgesellschaften, die an Landschaften vorüberglitten. Der Uhrmacher erklärte der Comtesse gerade, wie die kleinen Wunderwerke

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