Die Prophezeiung der Seraphim
davon abhalten kann, kannst du es ebenso gut erfahren: Seit einiger Zeit hat meine Mutter einen Gast, einen Jungen, der Ruben heißt. Er trägt das gleiche Amulett wie du.«
6
Paris,Juli 1789
D as Leben hatte sich in einen Rausch verwandelt, seitdem die Comtesse Ruben offenbart hatte, wer er in Wirklichkeit war. Er bewohnte eine großzügige Zimmerflucht im ersten Stock des Palais, ging in Samt und Brokat und trug Schnallenschuhe aus Kalbsleder. Im Vorzimmer wartete Philippe darauf, ihm jeden Wunsch zu erfüllen. Anfänglich wagte Ruben kaum, die Glocke zu läuten, die neben seinem Himmelbett hing, doch bald gewöhnte er sich daran, mitten in der Nacht heiße Schokolade zu bestellen oder sich vorlesen zu lassen.
Er konnte nachts oft nicht einschlafen, und obwohl er befohlen hatte, neben seinem Bett eine Lampe brennen zu lassen, kam ihm der große Raum zu dunkel vor. Der Baldachin schien auf ihn herabzustürzen, und er ließ die schweren Vorhänge stets zurückgezogen.
Meistens ging er weit nach Mitternacht zu Bett, denn er begleitete die Comtesse nun ständig ins Theater, zu Festen und anderen Anlässen, wo sie ihn stolz der feinen Gesellschaft von Paris präsentierte. Ruben hörte zwar, dass es Unruhen in der Bevölkerung gab, doch das hielt die Adeligen nicht davon ab, sich Festlichkeiten hinzugeben.
»Wir werden heute Abend ausgehen«, sagte die Comtesse auch an diesem warmen Julitag beim Mittagessen. »Der Duc de Marmande gibt eine Soirée.«
Sie saßen im Speisesaal an der langen Tafel, unter der Ruben und Henri sich versteckt hatten. Nicolas, der Sohn der Comtesse, lümmelte Ruben gegenüber auf seinem Stuhl und stocherte mit einem arroganten Gesichtsausdruck in seiner Fleischpastete herum. Mit Ruben hatte er noch kein einziges Wort gewechselt.
»Hättet Ihr Lust, mich zu begleiten?« Elisabeth d’Ardevon, die am Kopfende der Tafel saß, legte ihre Hand auf die Rubens, und ihm wurde ganz heiß vor Glück.
»Das wäre mir eine große Freude«, sagte er, wobei ihm peinlich bewusst war, wie ungelenk das klang. Er versuchte zwar, seine ländliche Sprechweise abzulegen, aber ihm würde wohl niemals gelingen, sich so gewandt auszudrücken wie Nicolas.
»Wie klug, ihn überallhin mitzunehmen, Mutter«, warf dieser plötzlich ein. »So hast du dein neues Spielzeug immer unter Kontrolle.«
»Du redest Unsinn, wie immer. Ich möchte einfach nicht auf Rubens anregende Gesellschaft verzichten.« Sie zwinkerte Ruben lächelnd zu.
»Auf meine dagegen schon, hoffe ich«, erwiderte Nicolas. »Die Empfänge von de Marmande sind unsäglich öde.«
»Weil du keinen Sinn dafür hast, das Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden.« Die Comtesse lehnte sich elegant in ihrem Stuhl zurück. »Mach, was du willst, Nicolas«, fuhr sie fort. »Ruben und ich werden uns herrlich amüsieren, nicht wahr?«
Wieder schenkte sie ihm ein Lächeln, und er schluckte schnell, um es erwidern zu können, wobei ihm ein Bissen Kalbsleber beinahe im Hals stecken blieb. Innerlich fluchte er, weil er sich so ungeschickt anstellte, aber die Comtesse ließ sich nichts anmerken und wartete, bis er wieder sprechen konnte.
»Ich bin Euch sehr dankbar«, sagte er.
»Nein, ich bin es, die dankbar sein muss«, erwiderte sie. »Denn ganz sicher seid Ihr ein unterhaltsamerer Begleiter als mein Sohn.«
Ruben blickte zu Nicolas, dessen Miene völlig unbewegt blieb, als er seinen Stuhl zurückschob und aufstand. »Ihr entschuldigt mich.« Er warf die Serviette auf den Teller und schlenderte hinaus.
Die Comtesse schickte ein perlendes Lachen zur Decke. »Er ist so überempfindlich«, sagte sie. »Es bereitet mir Vergnügen, ihn zu reizen!«
Ruben fand es seltsam, wie sich seine Gönnerin ihrem eigenen Sohn gegenüber verhielt, aber dessen arrogante Haltung forderte es geradezu heraus. Er sprach mit seiner Mutter nur das Nötigste, und an Ruben richtete er das Wort nur, wenn es nicht anders ging. Offensichtlich hielt er sich allen anderen gegenüber für überlegen.
Die Comtesse riss ihn aus seinen Gedanken. »Ich habe einen ganz wundervollen Anzug für Euch anfertigen lassen, mein Prinz. Ihr werdet der Glanzpunkt der gesamten Gesellschaft sein, alle sollen mich beneiden!«
Ruben richtete sich auf. Elisabeth d’Ardevon fand immer die richtigen Worte, sie sprach mit ihm wie mit einem erwachsenen Mann – und so fühlte er sich auch an ihrer Seite. Manchmal fragte er sich, ob er in sie verliebt war, doch es ging tiefer als das: Obwohl er kein
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