Die unglaubliche Geschichte des Henry N. Brown (German Edition)
Erlauben Sie mir,
dass ich Ihnen Henry vorstelle.
E s ist sicherlich unüblich, dass ein Verleger seine Autoren persönlich vorstellt oder gar Vorworte schreibt. In diesem Fall muss ich jedoch eine Ausnahme machen. Der Protagonist dieses Buches, Henry N. Brown, ist nämlich mein Bär – es gibt ihn wirklich, er ist nicht eine von der Phantasie ausgedachte Romanfigur. Ja, ich hätte selbst nicht geglaubt, dass ich einmal einen Bären zu meinen Autoren zählen würde, aber das Leben steckt voller Überraschungen.
Ich habe Henry an einem dunklen Dezembernachmittag kurz vor der Jahrtausendwende in einem winzigen Laden in Wien entdeckt: Mitten unter Puppen und anderem Spielzeug saß er in dem kleinen Schaufenster und blickte in die Dämmerung hinaus. Seinen Kopf hielt er ein bisschen schief, als sei er schon etwas müde. Vielleicht gab er aber auch nur besonders acht, denn in seine Pfote war die Hand einer Puppe gelegt, die größer war als er und wie seine ältere Schwester wirkte.
Jedenfalls bewirkte sein anrührender Blick, dass ich das Geschäft betrat und den Bären aus dem Schaufenster holen ließ. Es stellte sich heraus, dass Henry seinen Kopf tatsächlich nicht mehr gerade halten konnte – er war schon etwas locker und bewegte sich entweder nach rechts oder links. Auch war sein Fell ziemlich abgeliebt; in der Herzgegend spürte ich sogar eine Druckstelle. Der Bär ist tatsächlich nicht mehr der Jüngste, dachte ich, er hat einige Jahrzehnte auf dem Buckel. Der wackelnde Kopf, die eingedrückte Stelle, das nicht mehr dichte Fell – er schien eine bewegte Vergangenheit zu haben. Irgendwie rührte dieser Bär mein Herz, und ich nahm ihn mit.
Er hieß natürlich nicht von Anfang an Henry, und das „N.“ in seinem Namen steht für die kaum definierbare Farbe seines Fells: Henry nearly Brown – Henry Fast Braun. Nein, richtig braun war er nicht, eher bräunlich, ocker oder safrangelb. Wie auch immer, er bekam diesen neuen Namen – nach so vielen anderen, die er wohl schon gehabt hatte.
Ich gab ihm einen Ehrenplatz in einer Vitrine. Hinter Glas, damit ihm der Staub nichts anhaben konnte. Dort saß er inmitten alter Bücher, silberner Bilderrahmen und anderer schöner Gegenstände und blickte Tag für Tag wie aus einem Fenster in die Welt meines Arbeitszimmers. In seinen Augen war stets ein melancholischer Blick. Was hatte er wohl schon alles gesehen und erlebt? Ich wusste es nicht.
Eines Tages befreite ich Henry aus seinem komfortablen Gefängnis, nahm ihn in den Arm, streichelte ihm über sein struppiges Fell. Und da begann der Bär auf einmal zu sprechen. Er erzählte mir sein Leben, sein wechselvolles und spannendes Leben. Ich sah die Welt plötzlich mit seinen Augen, aus der Bärenperspektive sozusagen. Ich erfuhr viel über die Geschichte des vergangenen Jahrhunderts, ich lernte die Kinder kennen, die in diesem Bären einen besonders liebenswerten Spielgefährten hatten. Und einiges sehr Wichtiges über den Sinn des Lebens und das Geheimnis der Liebe lernte ich auch. Heute weiß ich: Wer auch immer sagt, er brauche keinen Bären und wisse mit ihm nichts anzufangen, hat ihn wahrscheinlich am nötigsten.
In der Autorin Anne Helene Bubenzer fand ich eine wunderbare Bärenchronistin, die das Leben des Henry N. Brown liebevoll und mit großer Weisheit aufgezeichnet hat. Dass in unserem Buch die Schriftstellerin den Bären erwirbt, ist ein kleines Zugeständnis an die Dramaturgie dieser wirklich unglaublichen Biografie. Alles andere ist so wahr, wie erlebte Geschichten eben wahr sind.
Und so freue ich mich, Ihnen Henry und seine Geschichte hier vorstellen zu dürfen. Er hat schon vielen Menschenkindern Trost gespendet, und manchmal – ich gestehe es – auch mir. Natürlich ist er der liebste und klügste Bär, den man sich nur vorstellen kann. Natürlich ist er ein Philosoph. Und natürlich hat er sein Herz auf dem rechten Fleck. Doch das haben Sie vermutlich schon geahnt.
Herzlichst
Ihr
J OHANNES T HIELE
1
V or einer halben Stunde habe ich an der Sicherheitskontrolle Alarm ausgelöst.
Die Schriftstellerin stellte ihre Tasche zum Durchleuchten auf das Band, und dann war es auch schon zu spät.
»Bitte, entschuldigen Sie, gnädige Frau, is des Ihre Taschen?«, fragte der österreichische Sicherheitsbeamte routiniert.
»Ja, die gehört mir«, sagte die Schriftstellerin.
»Können Sie die einmal öffnen, bittschön?«
»Natürlich«, erwiderte sie ganz freundlich und nett – so, wie ich sie
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