Die Prophezeiung
Gesehen worden war noch keines dieser Wesen von irgend jemandem, den Zaramé gekannt hätte und ihr Wissen über diese Gestalten hatte sie nur aus geflüsterten Ermahnungen der Eltern ihrer Freunde, dass man keines dieser Wesen verärgern dürfe. Mitten in ihre Erwägungen schrillte Solanas Stimme und Zaramé fuhr erschrocken zusammen.
Als sie nach oben sah, stand ihre Spiel - und Lernkameradin an der Brüstung und funkelte wütend hinunter. Zaramé seufzte innerlich und machte sich auf einen anstrengenden Tag gefasst. Wann auch immer Solana etwas nicht gefiel, ließ sie es die Kleinere spüren und piesackte sie mit Vorwürfen und unsinnigen Befehlen. Zaramé eilte die Treppe hinauf. „Entschuldigt, Prinzessin Solana, ich wurde aufgehalten.“
Solana musterte sie von oben herab und rümpfte die nicht allzu klein ausgefallene Nase über das abgetragene, wenn au ch saubere Kleid der anderen. „Wie du wieder aussiehst! Warum lässt du dir nicht mal ein Kleid schneidern, das dir passt und nicht aussieht wie von Mäusen zerfressen! Schließlich zahlen dir meine Eltern jede Menge dafür, dass du eine standesgemäße Gesellschaft für mich bist!“
„Ja, meine Prinzessin, bald! Verzeiht mir!“
Diese Entschuldigungen und Beruhigungsformeln gingen Zaramé inzwischen so leicht von der Zunge, dass sie sich dessen gar nicht mehr bewusst war. Solana hatte keine Ahnung von dem wenigen Geld, das ihre Eltern für Zaramé ausgaben – keinerlei Einschätzung, was das Leben vor den Toren der Burg oder gar ein Kleid, wie das ihre, kostete. Und dass König und Königin vermutlich nicht begeistert gewesen wären, wäre Zaramé in einem solchen Kleid erschienen. Das hatte Moran ihrer Tochter mal augenzwinkernd zugeraunt, als Zaramé sich darüber Sorgen machte.
„Denn , wenn du ein solches Kleid tragen würdest, mein Schatz, sähe Solana trotz allen Schmuckes wie deine Dienstmagd aus. Und dann bekämst du mehr Probleme, als es die Sache wert wäre. Denke darüber nach, wer von euch beiden die größeren Gaben von der Natur bekommen hat und nimm ihre Stichelei einfach hin!“
Eigentlich war Solana auf den ersten Blick nicht hässlich zu nennen, aber wie bei vielen Menschen, sah man auf den zweiten Blick zuviel von ihrem Charakter in ihren Gesichtszügen. Die Haare, meist zu einem goldenen Turm gesteckt und mit einem feinen durchsichtigen Tuch bedeckt, lenkten anfangs von den etwas eng stehenden blauen Augen ab. Darauf entdeckte man unweigerlich die, trotz ihrer zarten Jugend bereits vorhandenen verkniffenen Falten der Missgunst um ihre Mundwinkel. Auch bei den Zähnen fehlte die Vollkommenheit in der Stellung anders als bei Zaramés kleinen, weißen Zahnreihen. Daher vermied Solana es auch zu oft zu lächeln. Zaramé dagegen strahlte, mit der ihr eigenen Ruhe und Selbstsicherheit, die Menschen in ihrem Umkreis an, ohne jedoch sonnig kindlich zu wirken oder gar aufreizend. Als Zaramé die Stufen hinauf eilte, drehte sich Solana hochmütig auf der Ferse um und schritt in das Studierzimmer zurück. Dort standen am, mit schmiedeeisernen Figuren verzierten Fenster drei hölzerne Tische und Stühle sowie ein Lehnstuhl für den Hauslehrer Leandor, ein knapp 30- jähriger unheimlich wirkender Mann mit langem glattem dunklem Haar, der – für damalige Zeiten äußerst unüblich – glatt rasiert war. Das strenge Kinn und die stechenden Augen ließen auch Solana ihr herrschaftliches Getue sofort ablegen, sobald sie den Raum betreten hatte. Ihr Bruder Karim hatte panische Angst vor Leandor und blickte aufatmend zu den Mädchen hinüber. Der 15-jährige Thronfolger war sichtlich erleichtert, nicht mehr allein mit dem Lehrer sein zu müssen. Zu seiner persönlichen Abneigung für den Lehrer kam noch das Wissen um seine nicht überragenden Leistungsmöglichkeiten dazu. Für Karim bestand das Leben aus der Angst vor dem Unterricht und seinen Träumen von der Zukunft. Er liebte es zu träumen, vor allem tagsüber zum Ärger des Lehrers und seiner Eltern. Dann sah er sich auf einem großen Pferd, in der Hand das Schwert seines Vaters, der alt und schwach von den Zinnen der Burg stolz auf seinen Sohn herabblickte, welcher gegen ein großes Heer dunkler Gestalten kämpfte. Und neben seinem Vater stand, ihn liebevoll beobachtend, Zaramé, die auf ihn wartete.
Ja, der Junge war mehr als vernarrt in das ruhige, schöne Mädchen, das er z u seiner zukünftigen Gefährtin auserkoren hatte. Karim war bewusst, dass die gleichaltrige Zaramé seiner
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