Die Pubertistin - eine Herausforderung
Kirschlikör an einem Badesee ein einziges Mal geküsst habe. Blöderweise hatte Frank Thienemann eine feste Freundin, aber das hielt mich nicht davon ab, ihn so lange telefonisch und brieflich zu terrorisieren, bis er schließlich doch geschlagene drei Wochen mit mir ging. So groß war der Reiz des Unvernünftigen, der Glaube an Liebe unter dem Einfluss von Kirscharoma.
Ganz anders hingegen meine wunderbare Pubertistin. Kühl wägend genießt sie den Augenblick, ohne überstürzt diffusen Gefühlen nachzugeben. Schon gar nicht in jener Nacht, bevor sie fortgeht, um in fernen Kulturkreisen andere Jungs klarzumachen. Ich bin überwältigt von dieser Emotionsökonomie meiner Nachgeborenen und nehme sie in den Arm. Die Situation ist offenbar günstig, sie versucht nicht einmal, sich aus meiner Umklammerung zu winden, sondern liegt schlaff an meiner Schulter. Erst jetzt merke ich, dass sie weint. Ach du lieber Himmel, was ist denn jetzt los? Die Pubertistin zeigt Gefühle. Wir suchen uns ein stilles Coucheckchen und halten uns lange in den Armen. Was soll ich sagen? Es gibt keinen Trost.
Am Nachmittag fahren die Schwester, der Vater, ich und die Pubertistin zum Flughafen. Wir schleppen gerade den steinschweren Koffer zum Gate, als sich uns eine Armada minderjähriger Sonnenbrillenträger in den Weg stellt. Großes Geküsse, lautstarkes Gejuchze – sie sind alle gekommen. Das komplette Personal des letzten Jahres. All die Girls und Boys, die mir in unserem Häuschen am Ende der Sackgasse begegnet sind, die Kühlschrankplünderer undBierdiebe, die Knicksmädchen und Checkerjungs, die mein Wohnzimmer blockiert und ihre Kippen in den Rasen getreten haben. All die Telefon- und Internetsüchtigen und Einkaufszentrenbesatzer, die Schulfreundinnen und -freunde. Meta und Hans, Jakob und Anna, natürlich Elektra und Yasmin ... zwanzig Pubertisten stehen da, und meine Oberpubertistin mittendrin. Nur einer nicht. Paul.
Zwei Stunden bleiben noch bis zum Abflug. Wir kümmern uns um Gepäck und Check-in, kaufen und verteilen Cola und Kekse. Derweil werden Handyfotos gemacht, Geschenke ausgehändigt, es wird umarmt und gelacht. Der Vater, die Schwester und ich sind abgemeldet, wir gehören zum Inventar und brauchen kaum Pflege. Derweil verteilt unsere Weltreisende Luftküsse und schielt ein ums andere Mal auf ihr Handy, ob eine Nachricht da ist. Aber da ist wohl nichts.
Vierzig Minuten vor dem Abflug zieht unser Treck zur Passkontrolle. Jetzt wird es ernst: Hier endet das Vertraute, hinter dieser Schleuse beginnt das Unbekannte. Als nur noch fünf Passagiere vor ihr sind, ziehe ich meine Tochter entschlossen beiseite. DieFaust des Abschieds rammt sich mir in den Magen, sie macht, dass ich dieses Kind, diese kleine störrische Blondine, meine emotionale Sparringspartnerin wild, fast grob umarme. Ich brauche jetzt einen Abschied, und sie – da bin ich fast sicher – braucht den auch. Ich weine. Und sie weint ebenfalls, wow!, schon das zweite Mal heute. Ich will nicht weg, fiept sie mir ins Ohr. Das wird ganz toll, lüge ich und schiebe sie weiter in die Arme des Vaters und der Schwester. Wie ein derangiertes Spielzeug lässt sie sich durch ihr Universum schubsen, jeder drückt sie jetzt noch mal, die Schwester fährt ihr durchs Blondhaar, die Freunde streichen ihr über die Wange, küssen sie. Weinend und schniefend steht sie schließlich vor der gestrengen Kontrolleurin und schiebt ihren Pass rüber.
Und dann ist sie weg. Der Vater und ich schauen uns an. Sie fehlt uns, schon jetzt.
Da! Da ist sie doch!, ruft Elektra. Tatsächlich, hinter der dicken Panzerglasscheibe zum Abflugraum erscheint die Pubertistin. In der Menschenmenge sucht sie sich einen Platz, vor einem grauen Hartschalensitz lässt sie ihren Rucksack auf den Bodenplumpsen und wühlt darin herum. Wir da draußen winken und rufen, aber sie bemerkt uns nicht. Sie ist jetzt im Transit, schon fort. Wir sehen, wie sie ihr Handy hervorzieht, wie sie Knöpfchen drückt, wie sie etwas liest, wie sie lächelt und wie sich ihre Körperhaltung entspannt. Na Gott sei Dank, sage ich zum Vater, ich dachte schon, dieser Paul meldet sich nie!
Und dann schaut sie hoch. Entdeckt uns alle hinter der dicken Scheibe. Sie grinst, steht auf, schultert den Rucksack und geht zum Flugsteig. Und dann ist sie wirklich weg.
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