Die Quelle
ausführen können. Verzweifelt stürzte sie aus dem Haus, und jammervoll rief sie mit ihrer menschlichen Stimme: »Jahwe, Allmächtiger HErr, ich kann es nicht!« Vergeblich suchten ihre Kinder sie an diesem Tage. Gomer war in einen Stall nahe der Mauer geflüchtet, wo sie sich im Stroh verkroch, um dem Unfaßlichen zu entgehen, das ihr auferlegt worden war. Sie betete inbrünstig, es möge ihr erlassen werden, aber sie bekam keine Antwort. Bis zum Abend blieb sie im Stroh versteckt, unfähig, die Kraft zu finden für die letzte Pflicht, die Jahwe ihr aufgebürdet hatte. Als die Sonne gesunken war, fühlte sie sich stärker und wollte sich erheben. Doch da kam ihr abermals zu Bewußtsein, was zu tun ihr befohlen war, und voller Furcht fiel sie zurück auf das Stroh, weinte in ihrer Seelenqual und betete: »Diesen letzten Befehl, Allmächtiger, nimm ihn von mir!« Die ganze Nacht hindurch hielt sie sich verborgen unter dem Stroh, als könne sie so ihrem Gott entfliehen. Am Morgen aber ging sie zum Hause einer Nachbarin, lieh sich einen Wasserkrug aus und sagte: »Ich will dir dein Wasser holen.« Sie schritt durch den Stollen, und auf dem Rückweg vom Brunnen betete sie: »Barmherziger Jahwe, zerbrich diesen Krug nicht, denn er gehört Rahel, und sie ist eine arme Frau. Aber laß mich mit Dir sprechen.« Das Licht leuchtete auf, doch sie wurde nicht zu Boden geschleudert, und zum letzten Male redete die Stimme mit ihr, und tiefes Mitleid klang aus der Stimme.
»Gomer, du getreue Witwe des Jathan. Ich habe deine Bitte gehört. Aber es gibt kein Entrinnen.«
Sie schluchzte. »Die Säule des Baal, den Götzentempel, die Mauer, all dies kann ich niederreißen. Aber das Letzte, HErr, was Du forderst - ich kann es nicht.«
»Ich trachte danach, ein Volk zu erretten«, sagte die Stimme. »Glaubst du, daß Ich Freude an solchen Befehlen finde?«
Gomer antwortete nicht wie eine Prophetin, sondern wie eine Frau, die ihren Gott anfleht: »Als ich vor Hunger zu sterben meinte, hat Mikal mich gerettet. Wie eine Sklavin hat sie auf den Feldern gearbeitet. Sie ist mein Blut, das Licht meiner Augen, die Stimme meines Herzens, und ich weigere mich, ihr Leides zu tun.«
»Es muß sein.«
»Nein!« Voller Zorn warf Gomer den Krug auf den Boden, daß er in Jahwes Gegenwart zu Scherben zerbarst. »Ich will nicht.« Schweigen herrschte. Dann sagte die Stimme geduldig: »Gomer, das war der Krug einer armen Frau. Sie braucht ihn.« Und zu ihren Füßen ward der Krug wieder zusammengefügt und füllte sich mit klarem Wasser. »Wenn Ich darum besorgt bin, den Krug dieser armen Frau wieder zusammenzufügen, bin Ich nicht auch besorgt um Mein Volk Israel, es wieder zusammenzufügen? Du sollst tun, was Ich befehle, und du sollst zu deinem Sohn von Jerusalem sprechen, auf daß er sich erinnere. Denn von Geschlecht zu Geschlecht wird der Überlebende gesucht, der Jerusalem kennt, und in Makor seid ihr es, du und dein Sohn, denen die Erinnerung gegeben ist.« Das Licht erlosch. Niemals wieder sprach die Stimme zu Gomer. Aber durch die arme Witwe sollte das Furchtbare vollbracht werden, das vollbracht werden mußte, wenn Israel gerettet werden sollte. Im Zustand der Entrückung hob Gomer den Wasserkrug auf und schleppte ihn zurück zu Rahel, wo sie ihn niedersetzte, ohne ein Wort zu sagen. Dann überquerte sie die Straße und ging zu Rimmon und Mikal. Sie hatte Stroh im Haar, so daß die Kinder errieten, wo sie die Nacht verbracht hatte, und tiefe Furchen im Gesicht. Als Gomer sah, daß Mikal ein weißes Kleid trug, wollte sie fortlaufen, aber sie konnte es nicht. Sie streckte den Arm aus. Ihr Finger wies auf Mikal, die gerade den kleinen Ischbaal nährte. Ihre Stimme wurde rauh. Mit starren Augen blickte sie ihre Schwiegertochter an und schrie: »Alle Töchter Kanaans müssen verstoßen werden. Siehe, alle Söhne Israels, die es nach den Töchtern Kanaans gelüstet hat, sollen sie von sich stoßen.«
Mikal fuhr mit einem Schmerzenslaut zurück. Ihren Busen bedeckend, als sei er verunreinigt, flüsterte sie: »Gomer? Was hast du?«
»Hinaus!« kreischte Gomer. »Ich kenne dich nicht mehr! Du und das Kind - hinaus!« Besinnungslos rasend stürzte sie sich auf die entsetzte junge Frau und schrie sie an: »Hure! Verderbte! Tochter des Baal!« Und sie trieb das sanfte Geschöpf aus dem Haus und auf die Straße. Fassungslos versuchte Rimmon, sein Weib in Schutz zu nehmen. Aber seine Mutter warf sich unerbittlich zwischen Mann und Frau -Mikal
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