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Die Quelle

Titel: Die Quelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James A Michener
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verstanden, daß es Israel war, das da zerbrechen mußte, und daß nur der gewaltige Feuerbrand von Niederlage und Gefangenschaft die Scherben wieder zusammenfügen konnte. Wie eine Schlafwandlerin stieg sie die Stufen hinauf, ohne zu achten, wohin ihre Füße traten. Da sie aber auserwählt war zu hohem, schicksalhaftem Zweck, wurde ihr Leben bewahrt. Als sie an ihrem Haus vorbeiging, hörte sie Mikal rufen: »Mutter, Mutter! Hast du deinen Wasserkrug wieder zerbrochen?« Sie aber antwortete mit einer Stimme, die kaum ihre eigene war: »Israel ist es, das zerschlagen wird. Israel ist nicht mehr.« Wie ein körperloser Geist ging sie weiter, zur Mauer, wo Statthalter Jeremoth die Arbeiten an den Befestigungen leitete. Den Arm gereckt wie damals, als sie auf die dem Untergang geweihten Ägypter gezeigt hatte, rief sie mit rauher, durchdringend gellender Stimme: »Ihr Männer der Eitelkeit! Werft diese nichtigen Mauern nieder! Denn es steht geschrieben, daß Babylon die Kinder Israel gefangennehmen wird. Und ihr werdet die Berge und Täler von Galilaea nicht mehr sehen.«
    Jeremoth vermochte aus ihren Worten nichts herauszuhören als Besessenheit, und so hielt er eine Antwort für unnötig. Er starrte sie nur an; seine Männer aber unterbrachen ihre Arbeit und traten beiseite, als sie auf der Mauer entlangschritt, bis sie dicht vor Jeremoth stand und auf ihn herniederblickte, als sei sie es, die ihm Weisungen zu geben habe. So begann ein Geschehen, das für diese letzten Tage von Makor bezeichnend werden sollte. Zwei Ungleiche standen sich gegenüber, und es war ein sehr ungleicher Kampf, in den Jeremoth und Gomer verstrickt waren. Dreiundfünfzig Jahre alt, war Statthalter Jeremoth ein bewährter Mann, ein zäher Krieger, klug und erfahren und gestützt von der angesehensten Familie der Stadt. Er war entschlossen, Makor zu retten, und die Frauen, welche die Mauer wiederaufgebaut hatten, ebenso wie die Männer, die nun heimgekehrt waren, die Mauer zu verteidigen, vertrauten ihm. Denn sein Vorbild und sein Mut verliehen ihm eine Macht, die er durch Worte allein nicht hätte erlangen können. Gomer hingegen zählte neunundfünfzig Jahre, eine alte Frau am Ende ihres Lebens, so arm, daß sie kaum genug zum Leben hatte, und nicht fähig, klar zu denken oder gar Menschen zu führen. Selbst ihren Nachbarn bedeutete sie kaum etwas, und doch hatte Jahwe sie in diesen Monaten der Entscheidung als Sein Werkzeug ausersehen, und als die Frau, durch die Er sprach, sollte sie bestimmen, was in Makor geschah.
    Jetzt rief sie laut: »Reißt die Mauern nieder und öffnet die Tore.« Alles schwieg. Was diese Frau sagte, war Verrat, aber Jeremoth sah davon ab, sie festzusetzen, denn sie war schließlich die Mutter des Hauptmanns, auf dem die Last der Verteidigung lag.
    »Habe ich euch nicht gesagt, daß die Ägypter erniedrigt wurden?« schrie sie. »Und ihre Feldherren als Sklaven hinweggeführt? Spreche ich nicht die Wahrheit, wie ihr alle sie in euren Herzen wißt?« Noch immer gab Statthalter Jeremoth keine Antwort.
    Wie in einem Krampf schob sich jetzt Gomers rechte Schulter in die Höhe, und ihr Ellbogen zitterte, als sie anhub: »Die Säule des Baal auf dem Berg muß umgestürzt werden. Vertreibt die Priester und Priesterinnen aus dem Tempel. In der ganzen Stadt muß den Greueln ein Ende gemacht werden.« Alle schwiegen. Sie aber rief mit mächtiger Stimme: »Noch heute müßt ihr all das tun!«
    Geleitet von einer Macht, die von außen her auf sie wirkte, tat sie dreierlei, zum sichtbaren Zeichen dessen, was sie gesagt hatte: Sie nahm einen Stein von der Mauer und warf ihn hinab; sie trat auf Jeremoth zu, packte den Stab, den er als Zeichen seines Amtes trug, und zerbrach ihn, und sie begab sich zum
    Tempel der Astarte und trieb eine der heiligen Dirnen unter Flüchen aus ihrer Hütte.
    Dann ging sie heim, wo Sohn und Tochter nichtsahnend auf sie warteten, denn sie waren in den Stollen gegangen, um sich selbst zu überzeugen, daß die Mutter ihren Wasserkrug abermals zerbrochen hatte. »Sie ist zu alt, noch solch eine Last zu tragen«, hatten sie gesagt. Jetzt aber, als Gomer ihrer Schwiegertochter Mikal gegenüberstand, befahl Jahwe ihr, kraft dessen, wozu Er sie auserwählt, ein viertes Zeichen zu geben. Als sie jedoch Mikal ansah, diese liebevolle junge Frau, die ihr in der Zeit des Hungers das Leben gerettet hatte, vermochte sie nicht zu tun, was Jahwe von ihr verlangte. Es war zu entsetzlich, als daß sie es hätte

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