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Die Rache des Kaisers

Titel: Die Rache des Kaisers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gisbert Haefs
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EINS
    A ls ich die ersten Schüsse hörte, war ich tief im Wald. Ich hatte kaum Erfahrung mit Feuerwaffen und überlegte einige Momente, was dieses ferne Geräusch bedeuten mochte. Dann erinnerte ich mich an die Soldaten des Kurfürsten, an die Vorführung ihrer neuen Hakenbüchsen, und ich lief los, denn die Schüsse kamen vom Tal her. Vom Dorf, wo die anderen waren, die Eltern und die Geschwister … Ich dachte nicht mehr. Etwas wie schwerer, klumpiger Brei schien mich auszufüllen, wollte in die Kehle steigen; ich würgte es hinunter, und ohne nachzudenken wußte ich, daß es Angst war. Der Tau auf den Moosflächen, eben noch köstlich frisch zwischen den Zehen, schnitt eisig in die bloßen Füße.
    Am flachen Stein unter der Eiche hielt ich an, um die beiden Körbe mit Pilzen und Beeren zu den Schuhen, der Jacke und der kleinen Armbrust zu stellen. Vorhin, beim Ausziehen der Schuhe und der Jacke, hatte ich noch an das teils vorwurfsvolle, teils belustigte Lächeln der Mutter gedacht, als sie die herbstliche Kälte im Wald erwähnte. »Zieh dich wärmer an, Jakko, und zieh nicht gleich wieder alles aus, wenn ich dich nicht mehr sehe.« Die Mutter. Der Vater. Die beiden Schwestern. Der kleine Bruder. Die hundert anderen Männer, Frauen und Kinder im Dorf. Ich unterdrückte das Keuchen und lauschte. Schüsse, kein Zweifel. Waffengeklirr. Und Schreie.
    Wieder mußte ich schlucken, mehrmals. Ich schnappte
nach Luft und rannte weiter, zum Waldrand oberhalb des Dorfs. Der rechte Fuß verfing sich in einer Ranke, und ich schlug lang hin.
    Der Sturz brachte mich zu Bewußtsein. Ohne den Efeu und den Fall wäre ich aus dem lichten Gehölz aufs Feld gerannt, zum Dorf, sagte ich mir. Wozu? Um mit bloßen Händen Kugeln zu fangen und Säbel stumpf zu machen?
    Um mit den anderen zu sterben, ohne ihnen helfen zu können.
    Ich lag wenige Schritte vom Waldrand entfernt im Gesträuch. Langsam, vorsichtig kroch ich in den Farn, bis ich eine Stelle erreicht hatte, von der aus ich zwischen den Wedeln ins Tal sehen konnte.
    Ich erinnerte mich an den letzten Blick zurück, vorhin, eben erst. Das Gutshaus noch halb im Schatten, die Häuser, Ställe und Schuppen des Dorfs davor, in Form eines Hufeisens angelegt. Bauern auf dem Weg zu Äckern und Feldern, hier und da die Rauchsäule eines Herds oder Kamins.
    Inzwischen stand die Sonne höher, das Gutshaus war nicht mehr halb im Schatten, sondern ganz unter einer Wolke. Aus dem Dach leckten Flammenzungen, als wollten sie den Rauch kosten. Den Rauch verschlingen, sich von dem Rauch nähren, den sie selbst schufen. Auch die meisten anderen Häuser brannten. Zwischen ihnen liefen kleine schwarze Gestalten umher, und immer, wenn ich einen Schuß hörte, fiel eine von ihnen um.
    Drüben, jenseits des Dorfs, rannte jemand den Feldweg hinauf, der zum östlichen Wald und den Köhlerhütten führte. Ein Reiter folgte ihm. Etwas blitzte im Morgenlicht auf, und der Fliehende fiel.
    Männerstimmen wie fernes Poltern von Stiefeln auf Bohlen. Ein langes Kreischen: der Flug eines entsetzten Vogels,
und der Vogel löst sich auf und läßt den Flug, den Schrei, jäh ins Nichts stürzen. Es gab viele Frauen und Mädchen im Dorf, aber in allen Schreien, die ich hörte, waren nur die Stimmen der Mutter und der Schwestern.
    Ich weiß nicht, wie lange ich dort gelegen und gestarrt und lautlos geweint, wie oft ich die Tränenschleier zerrissen und verwischt habe, um das Grauen sehen zu können. Sehen zu müssen. Ich weiß auch nicht mehr, wer der Junge war, der dort lag und zitterte. Ein Fremder, dessen lange Verwandlung zu dem, was ich heute bin, in diesen Momenten begann.
    Vielleicht dachte dieser fünfzehn Jahre alte Fremde an den Wall, der das Dorf nicht hatte schützen können. Ein immer wieder ausgebesserter Erdwall mit Mauerstücken und Palisaden. Oben lag das Gutshaus, dessen Erdgeschoß nach außen keine Fensteröffnungen hatte. Am unteren - von dort, wo ich lag, linken - Ende des Hufeisens das Tor, nachts und bei Gefahr verschlossen. Morgens wurde es geöffnet, und niemand hatte etwas von einer Gefahr gewußt. Abends hatten wir dort die Pilger eingelassen, drei müde Männer, die zu den Gebeinen der Drei Könige nach Köln unterwegs waren, in Erfüllung eines Gelübdes. Wahrscheinlich habe ich, um nicht an die anderen zu denken, an sie gedacht, deren Pilgerfahrt zu einem blutigen Ende gelangt war.
    Immer noch stiegen Rauchsäulen von den Gebäuden auf, aber nicht aus Herden oder Kaminen, und sie wurden

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