Die Rache des Samurai
Hirata hatten keine Möglichkeit gefunden, zu sehen oder zu hören, was in dem Laden vor sich ging; deshalb hatten sie in einiger Entfernung gewartet. Als Matsui und Chūgo erschienen waren, hatten sie die Verfolgung der beiden Männer wieder aufgenommen. Doch bald wurden die Tore geschlossen, so daß den Verdächtigen keine Zeit mehr blieb, einen Mord zu begehen, falls sie dies beabsichtigt hatten. Chūgo war auch sofort zum Palast zurück geritten, und Sano vermutete, daß Matsui sich ebenfalls auf den Heimweg gemacht hatte. Nun kehrte Sano zu seiner Villa zurück, doch nur um sein Pferd dort unterzustellen; dann machte er sich erneut auf den Weg, um die zweite Mission in der heutigen Nacht zu erfüllen.
Als er durch die schummrigen, stillen Gassen und Durchgangswege schritt, traf ihn die körperliche Erschöpfung mit voller Wucht. Er hatte seit zwei Tagen nicht geschlafen und seit dem Nachmittag nichts mehr gegessen; er hatte Kopfweh, sein leerer Magen brannte, und das Kinn schmerzte ihm von Hiratas Faustschlag. Um so größer war Sanos Erleichterung, sich in der Sicherheit der Palastmauern zu befinden, wo kein Meuchler an ihn herankam. Doch das Überleben schien sein einziger Sieg an diesem Tag voller Fehlschläge und Niederlagen gewesen zu sein.
Er hatte seine Hoffnung begraben müssen, in eine angesehene Familie einzuheiraten. Es war ihm nicht gelungen, sich von der Unschuld Matsuis und Chūgos zu überzeugen; andererseits hatte er keine weiteren Beweise gegen sie sammeln können. Das Fiasko vor dem Laden hatte lediglich dazu geführt, daß das Pendel des Verdachts noch weiter in Richtung Yanagisawa ausgeschlagen war; immer mehr sprach für die Schuld des Kammerherrn.
Als Sano den Weg zum Ahnenschrein der Tokugawa einschlug, brach der unterdrückte Zorn sich Bahn und verdrängte Sanos Traurigkeit. Seine Erziehung untersagte es ihm, seine Wut gegen den Kodex des bushidō zu richten, der seine Seele, sein ganzes Inneres bestimmte; deshalb richtete er seinen Zorn auf ein geeigneteres Ziel: Aoi. Heute nacht würde er herausfinden, ob er mit seinem Verdacht recht hatte, was diese Frau betraf – und dann würde sie dafür bezahlen, ihn in die Irre geführt zu haben.
Widerwillig erinnerte Sano sich an ihr letztes Treffen: an Aois Schönheit, an sein Verlangen, diese Frau zu besitzen – ein Verlangen, das auch Aoi verspürt hatte, wie Sano wußte. Wieder geriet sein Blut in Wallung, und wieder stieg Erregung in ihm auf, verebbte jedoch rasch bei dem Gedanken, daß diese Frau ihn verraten hatte.
Sano war dermaßen in sich gekehrt, daß er die Schritte zu spät vernahm, die ihm über den Durchgangsweg folgten. Sie waren nahezu perfekt dem Rhythmus seiner eigenen Schritte angepaßt. Als Sano stehenblieb, verstummten die Schritte gerade so lange, bis er weiterging. Sein siebenter Sinn warnte ihn vor einer Gefahr; doch Sano hörte nicht auf diese innere Stimme. Er befand sich im Palast; er war in Sicherheit. Wahrscheinlich gaukelte sein erschöpfter Verstand ihm die Geräusche bloß vor. Seit zwei Tagen und Nächten war er des Meuchelmörders wegen in ständiger Alarmbereitschaft gewesen, und nun bildete er sich vermutlich Gefahren ein, wo es gar keine gab. Dennoch überlief ihn ein Schauder, und er schritt schneller aus und warf immer wieder Blicke über die Schulter. Dann verwehrte ihm eine Kurve in der steinernen Mauer die Sicht nach hinten. Sano brachte es nicht fertig, einfach stehenzubleiben und denjenigen vorüberzulassen, der ihm folgte, oder kehrtzumachen und dem Unbekannten entgegenzugehen. Mit einemmal witterte er die Gefahr, die hinter ihm lauerte; es war ein Instinkt, den er bei seinen beinahe lebenslangen Übungen als Samurai entwickelt hatte.
Sano rannte los. Während er über den gewundenen Durchgang eilte, hörte er über seine eigenen pfeifenden Atemzüge hinweg das angestrengte Keuchen seiner Verfolger. Einst war er der Jäger gewesen; diesmal war er die Beute. War das alles nur ein Spiel gelangweilter Samurai aus dem Palast, die Unterhaltung suchten, indem sie das erstbeste Opfer durch die Gänge jagten, um es zu demütigen, zu verletzen, oder gar zu töten? Eine Strafe hätten sie nicht zu befürchten; denn zu dieser nächtlichen Stunde würde niemand sie entdecken. Oder hatte diese Verfolgungsjagd mit seinen Nachforschungen zu tun? Oder mit dem Schwertkämpfer, den er vor wenigen Tagen getötet hatte? Was es auch sein mochte – Sano konnte spüren, daß seine Verfolger es bitter ernst
Weitere Kostenlose Bücher