Das Syndikat
1
San Diego
Als Ann McLaughlin mit dem Saft für die Kinder und dem Tee für sich und ihre Freundin Virginia in den Garten ging und hinauf in den Himmel sah, spürte sie ein unangenehmes Schaudern. Vor einer Stunde waren die Wolken grau und weit weg gewesen, doch jetzt hatten sie sich über den Ozean herangeschoben, düster und im Innern violett schimmernd, ein gewaltiges Gebirge, das die Berge, die sich jenseits der Gartenmauer erstreckten, jeden Moment zu überrollen und zu erdrücken drohte. In den zwei Jahren, die sie und Marc mit der kleinen Liza hier lebte, hatte sie noch nie einen solchen Himmel gesehen. So gewaltsam und irgendwie unheimlich. Früher, in New York, da hatte man zwischen den Häusern und Mauern immer nur Ausschnitte des Himmels erkennen können. Als wäre er Hintergrund, Dekoration, nicht aber Gewalt.
»Hoffentlich gibt’s kein Gewitter. Der Kleine mag das überhaupt nicht. Nicht wahr, William?«
»Wie bitte?« Ann war so in Gedanken vertieft, dass sie ihre Freundin ganz vergessen hatte, die mit dem ihr eigenen sanften Lächeln ihr Baby betrachtete und den Kinderwagen schaukelte. »Ich sagte, hoffentlich gibt’s kein Gewitter. William mag das überhaupt nicht.«
Virginia James lebte seit fünf Jahren hier, nur ein paar Häuser weiter, mit ihrem Ehemann, dem inzwischen fünfjährigen Shaun und dem Baby William. Sie war es gewesen, die Ann mit anderen Müttern bekannt gemacht hatte, als sie und Marc von New York hierhergezogen waren, weil man ihm einen guten Job angeboten hatte.
»Und du magst auch keine Gewitter, was, Sam?« Ann blickte zu ihrem schokofarbenen Labrador, der gierig das Tablett betrachtete, das sie gerade auf den Gartentisch stellte. Sam machte sitz und sah Ann mit schiefgelegtem Kopf treuherzig und geduldig an. »Ja, du bist ein guter Hund.« Sie schenkte ihm einen liebevollen Blick. Sam war Teil ihres neuen Lebens. Marc hatte ihn mitgebracht. Der Hund hatte eines Tages einfach vor seinem Auto gelegen, als hätte er sich eine neue Familie ausgesucht. Marc wusste nicht, woher er kam. Ausgesetzt vielleicht, hatten sie gedacht. Ann hatte ihn gleich ins Herz geschlossen. Sie seufzte. Ja, sie war glücklich. In New York hätte sie nie daran gedacht, einen Hund zu haben. Aber hier war alles anders – ruhiger, friedlicher. Wenn heute nur nicht diese merkwürdige Spannung in der Luft läge ...
Ann setzte sich Virginia gegenüber an den runden Gartentisch. »Ich glaube, das ist was ganz Archaisches.« Sie goss den grünen Tee in die beiden Tassen. »Diese Angst vor Donner und Blitz.«
Virginia lachte und nahm ihre Tasse. Ann spürte, wie etwas in ihr rebellierte. »Ich meine das ernst«, sagte sie schroffer als gewollt. Sogleich bemerkte sie ein Zucken um Virginias Mundwinkel.
»Hast du ein bisschen Zitrone?«, fragte Virginia knapp. »Ich hol sie mir auch selbst.«
»Im Kühlschrank.«
Virginia stand auf und ging zum Haus. Ann sah ihr nach, wie sie über den gepflegten grünen Rasen ging, vorbei an den Terrakotta-Blumentöpfen, in denen Ann liebevoll Zitronen- und Orangenbäumchen gepflanzt hatte, die glücklicherweise alle angewachsen waren. Es musste an diesem Wetter liegen, dass sie heute so gereizt war, an dieser drückenden, schwülen Luft.
Sams feuchte Hundeschnauze stupste sie an ... Manchmal konnte sie ihrem eigenen Glück nicht trauen, dann war sie sicher, dass sie irgendwann dafür zahlen müsste. Dass sie so etwas wie eine Rechnung erhalten würde, auf der der Preis für ihr Glück stand. Aber war das nicht Unsinn? Sie sollte Vertrauen haben und das Glück einfach annehmen.
»Mom!« Die fünfjährige Liza und Shaun standen wenige Meter von Ann und dem Gartentisch entfernt vor dem Ahornbäumchen, das Marc beim Einzug gepflanzt hatte.
»Was ist, Honey?«
»Die hat den Ball da hoch geschossen!«, rief Shaun und deutete mit ausgestrecktem Arm hinauf in die Baumkrone. Ann stand lächelnd auf. Der kleine Wildfang, dachte sie zärtlich. »Na, Liza, du bist mir eine.«
»Was für eine, Mom?« Liza sah Ann mit Unschuldsmiene an. Genau so eine, dachte Ann, eine raffinierte kleine Lady. Aber das sagte sie nicht laut, sonst hätte Liza sicher gleich wieder gefragt, was das bedeutete.
Nur noch zwei Schritte trennten Ann von den Kindern und dem Ahornbäumchen, als Virginias Handy klingelte und im selben Moment ein lauter, schriller Schrei ertönte. Ann fuhr herum. Alles schien gleichzeitig zu passieren: Der Kinderwagen kippte, Virginia stürzte auf etwas Wildes, Dunkles
Weitere Kostenlose Bücher