Die Rache des Samurai
Unterrichtsstunde vor dem inneren Auge, die sie im Alter von acht Jahren besucht hatte. Ihr Vater sprach über den Aufbau des menschlichen Körpers.
»Hier, zwischen diesen beiden Wirbeln«, sagte er und berührte eine Stelle am Rückgrat des jungen Mannes, »müßt ihr die Nadel hineinstechen. Der Tod tritt sofort ein, und die Nadel hinterläßt keine Spur, nur ein winziges Loch, das sehr schwer zu entdecken ist.«
Eine nach der anderen traten die Mädchen vor und berührten den Punkt, auf den Aois Vater gezeigt hatte, prägten sich die Stelle und die Beschaffenheit von Haut, Fleisch und Knochen ein. Für einen Augenblick wurde Aoi wieder zu dem kleinen Mädchen von damals, kehrte zurück in den Körper und die Welt ihrer Kindheit. Sie berührte den Rücken des Mannes – und befand sich im selben Moment wieder in der Gegenwart. Ihr Finger lag an genau der richtigen Stelle auf Sanos Rückgrat.
Das Donnern der Woge in ihrem Inneren wurde lauter. Aoi verlor die Verbindung zu ihrem Menschsein, wurde zu einem bloßen Gefäß für die Kraft, die sie durchströmte. Die wirbelnde Energie konzentrierte sich auf zwei Stellen: Aois Fingerspitze, die auf Sanos Haut drückte, und die Hand, die den Dorn hielt. Von der unwiderstehlichen Kraft getrieben, senkte die Hand sich langsam herab, bis die Spitze der Haarnadel über dem tödlichen Punkt an Sanos Halswirbel schwebte.
Ganz schwach vernahm Aoi die Stimme ihres Vaters. »Das Töten ist die letzte und am wenigsten wünschenswerte Möglichkeit. Doch wenn ein solcher Zeitpunkt kommt, müßt ihr ihn erkennen und ohne Zögern handeln. Denn unser aller Sicherheit hängt von euch ab.«
Nein …
Der schwache Protest ihres Wachbewußtseins verstummte rasch wieder. Aois Fingerspitze bewegte sich zur Seite, entblößte den Punkt, an dem die Nadel eindringen mußte. Als der dünne Stahl sich senkte, drohte Aoi das Herz zu zerspringen. Das Blut donnerte in ihren Ohren, ihr Atem ging in keuchenden Stößen. Ihre Hand packte die Nadel fester. Langsam drückte sie zu. Die Spitze drang durch Sanos Haut. Aoi spürte, wie die finstere Macht sich in den Muskeln ihres linken Armes sammelte, um ihn auf den tödlichen Stoß vorzubereiten …
… als irgendein letzter Rest ihres Selbst sich gegen die Kraft stemmte, die sie zum Töten trieb. Mit einemmal erinnerte sie sich an ihre Vision der gemeinsamen, wenngleich unmöglichen Zukunft mit Sano. Wie ein verblaßtes Gemälde auf durchscheinender Seide sah sie das Bild, wie sie mit Sano den Berghang hinaufstieg; es schwebte zwischen ihr und der wirbelnden, strahlenden Woge aus Energie. Diesmal jedoch ballten sich schwarze Gewitterwolken über den fernen Gipfeln. Sturmwind peitschte die Bäume und ließ das Gras flattern. Aoi sah sich lächeln und den Arm ausstrecken, um die Hand zu ergreifen, die Sano ihr mit dem Versprechen von Liebe und Schutz darbot. Plötzlich flimmerte sein Bild und löste sich auf. Aoi stand allein auf dem Berg, im Sturmwind.
»Komm zurück!« rief sie flehend.
Bei ihrem Schrei verflüchtigte sich schlagartig die finstere Energie. Die Woge verebbte; das Donnern verstummte; die farbigen Lichter erloschen. Der Trancezustand fiel von ihr ab.
Voller Entsetzen erkannte Aoi, was sie beinahe getan hätte, und für einen langen Augenblick kniete sie starr vor Schreck neben dem Futon. Dann wurde ihr Körper schlaff. Die Energie, die sie beinahe dazu getrieben hätte, Sano zu töten, hatte sie erschöpft. Sie ließ die Haarnadel los, und diese rutschte über Sanos Rücken auf den Futon. An seinem Nacken war nur ein winziger, harmloser Einstich zu sehen. Mit einem tiefen Seufzer ließ Aoi sich auf Sanos Körper sinken und umarmte ihn, während sie von Schluchzern geschüttelt wurde.
Vom Gift betäubt, schlief Sano weiter, ohne von Aois Verzweiflung zu ahnen oder davon, wie knapp er dem Tod entronnen war. Ihre Schwäche hatte ihn gerettet – vorerst. Denn Aoi schuldete ihre Treue und Ergebenheit nicht ihm, sondern anderen Menschen, zu deren Schutz sie die tödlichen Fertigkeiten einer Ninja erlernt hatte, die einzusetzen sie mit solchem Schrecken erfüllte.
Morgen mußte sie die Tat vollbringen, zu der ihr an diesem Abend die Kraft und der Mut gefehlt hatten.
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S
ano lenkte sein Pferd eine gewundene Straße im hügeligen Westen Edos hinauf. Wilde Azaleensträucher mit leuchtendroten Blüten wuchsen auf den steinernen Böschungen auf dem höher gelegenen Teil der Straße; Eichen, Lorbeer und Zypressen, Kastanien, Kiefern und
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