Die Rache des Samurai
zurückzuführen war, den sie für den Kammerherrn empfand – ein Mann, dem jedes Mittel recht war, Sano zu vernichten. Vielleicht lag es auch an Sanos ruhiger Intelligenz und seiner Bescheidenheit, die ihn so sehr vom normalerweise selbstsüchtigen, brutalen Samurai unterschied. Es ängstigte Aoi, daß Sano ihr sympathisch war. Sie durfte nicht zulassen, ihre persönlichen Gefühle mit ihrem Auftrag zu vermischen, wo so viel auf dem Spiel stand. Doch für einen winzigen Moment rief sie sich den Anblick von Sanos Gesicht ins Gedächtnis, mit seinem zugleich nachdenklichen und wachsamen Ausdruck. Aoi mußte daran denken, daß sie sich körperlich zu ihm hingezogen gefühlt hatte – wie auch er sich zu ihr hingezogen fühlte; das wußte sie. Er war ein Mann, den sie unter anderen Umständen wirklich hätte mögen können …
Aoi verscheuchte diese unsinnigen Gedanken und sagte: »Er ist einsam. Und Einsamkeit macht die Menschen verletzlich.«
O ja, sie kannte die Einsamkeit; sie kannte sie sehr gut. Während Yanagisawa weiter über Sano schimpfte, fing ein winziger Teil von Aois geschultem Geist die Worte des Kammerherrn auf und speicherte sie im Gedächtnis, derweil ein anderer Teil ihres Verstandes, der sich auf einer tieferen Ebene befand, einen großen Teil ihres bisherigen Lebens nachvollzog – beginnend mit dem Tag, als sie die Provinz Iga verlassen hatte, ihre Heimat.
Aoi sah sich wieder als vierzehnjähriges Mädchen an jenem nebeligen Herbsttag vor fünfzehn Jahren – eine Schülerin an der geheimen Akademie in den Bergen, an der junge kunoichi die hohe Kunst des Kämpfens und des Ausspionierens erlernten. Aoi rannte über eine Übungsbahn durch den Wald, auf der Bäume als Hindernisse dienten, und Felsen, und in Querrichtung angebrachte Pfähle und schräg aufgestellte Bretter. Diese Übung sollte dazu dienen, die Schnelligkeit zu steigern, die Beweglichkeit und den Gleichgewichtssinn zu verbessern und sich so geschmeidig und lautlos wie möglich zu bewegen. Am Ende der Übungsbahn stand Aois geliebter Vater: der mächtige jōnin , das Oberhaupt der Iga-Ninja, einer besonderen Schule der Ninja-Techniken auf geistigem und körperlichem Gebiet.
Beim Anblick seines bedrückten Gesichts blieb Aoi wie angewurzelt stehen.
»Was ist, Vater?« fragte sie.
»Die Zeit ist gekommen, Aoi, mit jener Arbeit zu beginnen, für die du so lange Zeit geübt hast«, sagte er traurig. »Noch heute wirst du dich auf den Weg zum Palast von Edo machen. Dort wird man dich zur Spionin ausbilden.«
Aoi schlug die Arme um den Oberkörper, als würde sie frieren; sie wurde von einer Trostlosigkeit erfaßt, die so kalt war wie der Wind in den Bergen. Stets war ihr es so erschienen, als läge die unvermeidliche Trennung in ferner Zukunft. Nun aber war die Zukunft zur Gegenwart geworden.
In den Augen des Vaters spiegelte sich Aois Schmerz, doch er sagte nur: »Es muß sein.«
Seit frühester Kindheit im ninjutsu ausgebildet, wußte Aoi, daß es besser war, keine Fragen zu stellen. Ein jōnin traf sämtliche Entscheidungen, den Klan betreffend, wobei er sich auf sein überlegenes Wissen stützte, und niederrangige Klanmitglieder mußten sich diesen Entscheidungen ohne Widerspruch beugen. Doch Aoi vermutete, daß die Ninja stets demjenigen dienen würden, der die besten Aussichten hatte, sich Macht zu erwerben und sie zu wahren, um den Fortbestand des Klans zu sichern. Und Aois Vater setzte auf die Tokugawa. Daß er seine beste und liebste junge kunoichi zu ihnen schickte, war der Beweis. Am liebsten hätte Aoi geweint, getobt und den Gehorsam verweigert, doch ihre Ausbildung ließ ihr keine andere Wahl, als zu sagen: »Ja, Vater. Ich gehe jetzt und mache mich bereit.«
Nun verschloß Aoi ihren Geist vor dem Schmerz der Trennung, den sie noch immer verspürte, und zwang sich, ihre Gedanken wieder auf die Gegenwart zu richten.
»Wir dürfen Sano nicht erlauben, diesen Mordfall zu lösen – und das wird er auch nicht.« Yanagisawa lachte; es war ein Laut der reinen, überströmenden Freude. »Was für ein Glück, daß es mir gelungen ist, Seiner Hoheit Euren Plan aufzuschwatzen!«
In Aois Augen war es ein Verbrechen, daß Yanagisawa die Nachforschungen in einem Mordfall sabotierte, um seine eigenen Ziele zu verfolgen. Warum wollte der Kammerherr, daß der Fall ungelöst blieb? Wollte er Sano als möglichen zukünftigen Rivalen ausschalten? Oder gab es einen anderen, noch schlimmeren Grund, der unmittelbar mit dem Mord
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