Die rebellische Republik / Warum wir uns nicht für dumm verkaufen lassen
und kritiklos, wie die politische Klasse ihn gern hätte, und insofern nehmen die Parteipaschas Umfragen nicht zu Unrecht ziemlich ernst, denn auch sie sind eine Form des Widerstands. Insofern herrscht in den Parteizentralen zu Recht Alarmstufe Rot, wenn etwa laut Allensbach-Umfrage vom Januar 2010 rund 58 Prozent der Bürger die Verteilung der Einkommen und Vermögen für ungerecht und nur knapp 15 Prozent für »im Großen und Ganzen gerecht« halten und 71 Prozent meinen, die soziale Gerechtigkeit habe seit 2006 weiter abgenommen. Nur folgerichtig: Für 49 Prozent ist die deutsche Variante der Marktwirtschaft »nicht wirklich sozial«, nur für 35 Prozent ist sie »sozial«. [81]
Nun sind ja Zahlen geduldig und Umfragewerte erst recht; aber in Verbindung mit dem steigenden Wahlboykott dürften bei den »Eliten« sämtliche Alarmglocken schrillen: Ist darauf Verlass, dass das deutsche Duckmäusertum ewig währt und »systemkritische« Umfragen das Äußerste an Widerstand bleiben werden?
Flucht ins Paralleluniversum
Eine in den sechziger und siebziger Jahren verbreitete Art des Widerstandes war das »Aussteigen«. Man verweigerte sich der Gesellschaft und machte sein »eigenes Ding«. Legendär sind die Landkommunen, wo man versuchte, möglichst autark zu leben. Diese Art der Verweigerung allerdings lebt heute fort – wenn auch mit anderen Vorzeichen.
Eltern haben häufig keinen Schimmer, was ihre Kinder bewegt, in welchem Umfeld sie verkehren und wovon sie träumen. Nur in Extremfällen – der Sprössling als Dealer, Rauschgifttoter, Einbrecher oder perverses Sado-Monster – erfahren die Erzeuger überhaupt, in welchen Parallelwelten sich ihr Nachwuchs herumtreibt. Nun ist die Aussteigerbewegung keineswegs ein Jugendproblem, sondern betrifft alle Altersgruppen. Zum Beispiel die erwähnten Nichtwähler: Viele von ihnen, das kann man in persönlichen Gesprächen, auf Diskussionsveranstaltungen ebenso wie in Internetforen nachvollziehen, sind nicht politik-, sondern politikerverdrossen. Ein »guter Demokrat« ist eben nicht jener, der ohne Hirn und den Hauch politischer Minimalbildung irgendeinen Politkasper der Bundestagsparteien wählt, sondern derjenige, der sich für Hintergründe interessiert und gerade deshalb bewusst nicht zur Wahl geht: Wenn ein Restaurantbesucher die Wahl zwischen Gammelfleisch, stinkendem Fisch und einer madenübersäten Käseplatte hat und er dann das Lokal verlässt, leidet er deshalb unter Appetitlosigkeit? Was Wunder also, dass offenbar immer mehr Menschen die Nase voll haben von der gedrechselten Besserwisserei all der angeblichen Volksvertreter, Experten oder sonstigen Durchblicker, die durch die Medien geistern.
Stattdessen schalten sie auf Durchzug und begeben sich in eine (oder mehrere) der zahllosen Parallelwelten. Dies kann die Familie oder die Clique sein, der Sportverein oder der Fanclub, die Hobbykochgruppe oder das Ehrenamt in der Altenpflege, ja sogar die Kitschserie oder die virtuelle Realität des Computerspiels oder des Internets – nicht umsonst heißt die bedeutendste einschlägige Internet-Plattform
Second Life.
In der Parallelwelt finden sie all das, was ihnen das »wirkliche Leben« meist vorenthält: eine sie ausfüllende und zufriedenstellende Tätigkeit, die Anerkennung der Gemeinschaft sowie große und kleine Happy-End-Erlebnisse.
Nun haben Millionen Menschen irgendwelche Hobbys, sind in Vereinen, identifizieren sich mit Filmhelden und Spitzensportlern oder werden in Gesellschaftsspielen zum »Räuber« oder »Gendarm«. Aber die wenigsten verwechseln Traumwelt und Wirklichkeit, denn auch hier gilt der Satz des Schweizer Arztes und Philosophen Paracelsus ( 1493 – 1541 ):
Dosis sola facit venenum –
Allein die Dosis macht das Gift. Erst wer zum Beispiel immer häufiger zugunsten von Vereinsterminen den Job schwänzt oder wegen der virtuellen Arbeitslosigkeit seines Serienhelden frustrierter ist als wegen seiner eigenen, wem der Sieg seines Fußballclubs wichtiger ist als die Rettung der Partnerschaft, fällt in die Kategorie »Protest durch Realitätsflucht«. Im Grunde ist dies nichts anderes als eine Variante des amtskirchlichen Vertröstens auf ein paradiesisches Leben nach dem Tod: Die Realitätsflüchtlinge wollen sich dieses Paradies schon auf Erden und zu Lebzeiten schaffen.
Diese Art »Widerstand gegen die Gesellschaft« scheint auf den ersten Blick für die Profiteure unserer heutigen Verhältnisse und ihren Staat völlig
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