Die rebellische Republik / Warum wir uns nicht für dumm verkaufen lassen
Studenten, Hartz- IV -Geschädigte oder Gewerkschafter praktisch unter sich waren, umfassen sie nahezu alle Bevölkerungsschichten. »Bei unseren Montagsdemonstrationen versammeln sich Ärzte, Lehrer, Ingenieure und Anwälte«, sagt eine Stuttgarter Bahnhofsaktivistin. »Das sind Leute, die unsere Gesellschaft tragen – aber diesen politischen Amoklauf nicht länger hinnehmen wollen.« [20] Und da die Herrschenden geradezu darauf angewiesen sind, die Armen und die Normal- und Besserverdiener, die Jungen und die Alten, die Arbeitslosen und die Job-Inhaber, ja sogar die Raucher und Nichtraucher gegeneinander aufzuhetzen, könnte sich eine »Kollaboration« der unterschiedlichen Schichten für »Die-da-oben« zu einer brenzligen Angelegenheit entwickeln. [21] Sind also die wiederauferstandene Anti-Atomkraft-Bewegung und die Kämpfe um den Stuttgarter Hauptbahnhof nur ein Sturm im Wasserglas oder der Anfang einer beispiellosen Protestlawine, deren Richtung und Ziel bislang völlig ungewiss sind?
So tun als ob: symbolischer Widerstand
Generell gilt: Wenn bei irgendwas Spitzenpolitiker mitmachen oder gar mehrere Parteien (die Linke meist ausgenommen) dazu aufrufen, dann können wir ruhig mitlaufen. Dies gilt auch für Aktionen und Forderungen, gegen die ohnehin kaum jemand etwas hat – häufig auch, weil sie zu allgemein und unverbindlich sind. Beliebte Themen sind Morde an Ausländern, kriminelle Islamisten, Rechtsradikalismus, Klimawandel, Rettung des tropischen Regenwaldes, Hunger und Armut (wenn man nicht gerade die Großkonzerne und deren Regierungen als Schuldige erwähnt), Kinderpornographie oder Rettung von Robben und Walen. Unvergessen ist die Szene in der Komödie
Miss Undercover
mit Sandra Bullock, in der jede einzelne Kandidatin einer Miss-Wahl zum Abschluss ihrer Präsentation ausruft: »Und außerdem bin ich für den Weltfrieden.«
Diese Art von »Widerstand« ist für die Politik meist Teil des Wahlkampfes und der Eigenwerbung. Aber auch ganz gewöhnliche Karriere-Opportunisten versuchen hier zu punkten. Wenn zum Beispiel ein Moderator, der stets allen wichtigen Politikern aller wichtigen Parteien recht gibt, plötzlich kämpferisch wird und mit bebender Stimme bekennt: »Ich bin gegen Kinderschänder ebenso wie gegen Serienkiller«, dann hat das so viel mit »Mut« und »Widerstand« zu tun wie ein Fisch mit einem Fahrrad.
Eng verwandt mit dieser Form des ungefährlichen Widerstands sind »von oben« initiierte Protestaktionen wie Schweigemärsche oder Lichterketten gegen jene Morde an Ausländern, die sich wegen einer undichten Stelle nicht totschweigen lassen. Angeführt wird dieses Theater oft von Politikern, deren Parteien erst die Stimmung für solche Verbrechen geschaffen haben. Das allerdings soll nicht heißen, dass unzählige aufrechte Menschen sich an diesen Lichterketten und Demos beteiligen. Ihnen gehen die Morde wirklich nahe; ihnen sagt kein persönlicher Referent: »Wenn Sie wiedergewählt werden wollen, dann müssen Sie sich unter diesen Idioten und Gutmenschen auch blicken lassen. ARD und RTL sind auch schon bestellt.«
Tarifzank nach Drehbuch: Arbeitskämpfe als Ritual
Zu den echten Arbeitskämpfen kommen wir später, hier geht es um die symbolische, ritualisierte Form. Dieses »So tun als ob« gilt insbesondere für die Gewerkschaften. Häufig rufen Gewerkschaftsbosse nicht hauptsächlich deshalb zu Streiks auf, um Forderungen durchzusetzen, sondern damit die Beschäftigten »Dampf ablassen« und die Arbeitnehmervertreter die Kampfentschlossenen geben und »Wir tun was« vortäuschen können.
Allerdings müssen die Gewerkschaften aufpassen; hängt doch ihre Macht wesentlich von der zahlenmäßigen Stärke und der Kampfbereitschaft ihrer Basis ab. Der seit Jahren andauernde massive Mitgliederverlust von 7 , 8 Millionen im Jahr 2000 auf 6 , 3 Millionen im Jahr 2009 [67] zeigt den Schwund des Vertrauens in die Führung, was eigentlich kein Wunder ist. So boykottierte die DGB -Spitze nahezu jede »Hartz- IV -muss-weg«-Demonstration. Und Gewerkschaftsführer machten der Belegschaft auch freiwilligen Lohnverzicht zwecks Rettung von Arbeitsplätzen schmackhaft.
Hier mal ein Warnstreik für Mindestlöhne, gegen Werkschließungen oder unzumutbare Arbeitsbedingungen, dort eine Kundgebung gegen unbezahlte Überstunden, Abbau des Kündigungsschutzes oder für mehr Ausbildungsplätze. Und die Adressaten, ob Regierung oder Arbeitgeber, lehnen sich entspannt zurück: Solange der Protest
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