Die Schmetterlingsinsel
Prolog
Tremayne House
1945
Die junge Frau tauchte an einem verregneten Oktobernachmittag vor dem alten Herrenhaus auf. Nebel hüllte den Park ein und ließ die Trauerweiden, deren Äste Regentropfen weinten, noch trostloser wirken. Verwittertes Herbstlaub säumte die vormals gepflegten Wege und hing wie Fusseln in dem Gras, das schon seit einer Ewigkeit nicht mehr gemäht worden war.
Mit angespannter Miene, ihr abgezehrtes Spiegelbild ignorierend, spähte die Fremde durch die geteilte Scheibe der Eingangstür. Zweimal hatte sie bereits geläutet, doch niemand ließ sich blicken. Dabei waren die Menschen im Innern des Hauses deutlich zu hören. Offenbar hielt sie die hektische Betriebsamkeit davon ab, zur Tür zu gehen.
Nachdem sie ein drittes Mal vergeblich die Klingel gedrückt hatte, wollte sie sich schon umwenden und gehen. Da ertönten Schritte, und wenig später erschien eine Frau in Dienstmädchenuniform, auf deren Namensschild der Name Linda stand. Streng maß sie den Neuankömmling, der denselben Anblick bot wie viele Frauen, die der Krieg in Not gebracht hatte. Verfilzte schwarze Haare, blasse Wangen. Die blauen Schatten unter ihren Augen ein Zeugnis von Hunger und Entbehrungen. Die groben Arbeiterschuhe, die ihr einige Nummern zu groß waren, klafften an den Seiten auf. Unter den schmutzigen Kleidern und dem löchrigen Trenchcoat wölbte sich ein kleiner Bauch.
»Tut mir leid, wir sind überfüllt«, murmelte Linda kühl.
Die blasse Gestalt streckte ihr daraufhin einen abgegriffenen, mit Schmutzschlieren bedeckten Umschlag entgegen. »Geben Sie das bitte der Hausherrin.« Ihre Worte klangen hölzern, da sie es nicht gewohnt war, englisch zu sprechen. Dennoch lag eine Bestimmtheit in ihrer Forderung, die nicht zu jemandem passte, der sich damit abgefunden hatte, ein Leben auf der Straße zu führen. Linda sah die Frau, die irgendwie fremdartig wirkte, prüfend an, doch da sie ihre Bitte nicht zurücknahm und den Blick des Hausmädchens beinahe trotzig erwiderte, nahm sie den Umschlag an sich.
»Einen Moment bitte.«
Aus einem Moment wurden viele, doch die Frau blieb vor der Tür stehen, als sei sie zu Stein geworden. Weder trat sie von einem Bein aufs andere, noch setzte sie sich, obwohl das niedrige steinerne Geländer Gelegenheit dazu bot. Sie streichelte sich nur sanft über den Bauch, der ihren wertvollsten Schatz barg. Das Kind, das in ihr heranwuchs, war jede Strapaze, jede Erniedrigung wert.
Anstelle des Hausmädchens erschienen zwei Frauen, eine schätzungsweise um die fünfzig und dunkelblond, die andere etwa in ihrem Alter, mit rotblondem Haar. Obwohl der Krieg auch von ihnen Opfer gefordert hatte, schien es ihnen verhältnismäßig gut zu gehen, wie ihre gesunde Gesichtsfarbe und die gerundeten Züge bewiesen.
»Sie sind Beatrice? Beatrice Jungblut?«
Die junge Frau nickte. »Ja, die Tochter von Helena. Sie sind die Stanwicks, nicht wahr?«
»Ich bin Deidre Stanwick, das ist meine Tochter Emmely Woodhouse«, antwortete die ältere der beiden Frauen, der ihre Tochter wie aus dem Gesicht geschnitten war.
Beatrice nickte ihnen beklommen zu, denn sie spürte, dass sie nicht willkommen war. Doch eine andere Möglichkeit blieb ihr nicht. Ihr eigenes Leben interessierte sie nicht, mittlerweile war es so oft in Gefahr geraten, dass der Tod seinen Schrecken verloren hatte. Das Kind sollte jedoch die Möglichkeit haben, die Sonne zu sehen und den Frieden, der erst seit ein paar Monaten bestand, zu genießen.
Nachdem sie sich vielsagend angesehen hatten, fragte die Ältere: »Wo ist Helena?«
»Sie ist bei einem Angriff umgekommen, genauso wie mein Mann«, antwortete die Frau.
»Und du?«, fragte Emmely erschüttert.
»Ich konnte mich verstecken.« Schützend legte sie die Hände vor den Bauch. »Meine Mutter sagte mir, dass ich, sollte ihr etwas passieren, mich an euch wenden soll.«
Wieder sahen sich die beiden an, dann fragte Deidre: »Hast du Papiere, die deine Identität beweisen?«
Beatrice schüttelte den Kopf. »Die sind verbrannt, als uns die Tiefflieger beschossen haben.«
Das war es, dachte sie. Jetzt schicken sie mich fort. Welchen Grund sollten sie auch haben, mir zu vertrauen? Es ist alles sinnlos und das Papier in meiner Hand nichts weiter als ein leeres Versprechen, das längst vergessen ist.
»Nun gut, komm erst einmal rein, dann reden wir.«
Der Geruch von Karbol und Tod schlug der Schwangeren entgegen, als sie den beiden Hausherrinnen durch einen langen Gang folgte.
Weitere Kostenlose Bücher