Die rebellische Republik / Warum wir uns nicht für dumm verkaufen lassen
Bürger zu verdenken, wenn er am Wahltag lieber ins Grüne fährt. Und wenn er dann auch noch von einem Franz Müntefering hören muss, es sei »unfair«, eine Partei an ihren Wahlkampfversprechen zu messen, dürfte der Bedarf des Bürgers an Wahlen und fast allen politischen Parteien bis auf weiteres gedeckt sein. [73] Und wenn er aktiv genug ist, übt er seinen Widerstand gegen unsere Variante der parlamentarischen Demokratie nicht passiv aus, sondern schließt sich einer Organisation wie Attac oder Greenpeace an.
Das rasante Abnehmen der Wählerzahl darf aber wohl auch darauf zurückgeführt werden, dass der Einfluss der Bürger auf die Politik, wie von ihnen vermutet (siehe Umfrage oben), trotz Wahlen gegen null geht. So kündigte der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit im Jahr 2010 schon vor dem Volksentscheid über die Zukunft des Flughafens Tempelhof an, dass ihm das Votum der Bürger schnurzegal sei und er sich keinesfalls danach richten werde. [74] So redet nur jemand, der das Volk für verblödete Duckmäuser hält.
Dabei heißt es in Artikel 63 , Absatz 1 der Verfassung von Berlin eindeutig: »Ein Gesetz … ist durch Volksentscheid angenommen, wenn eine Mehrheit der Teilnehmer und zugleich mindestens ein Viertel der zum Abgeordnetenhaus Wahlberechtigten zustimmt.« [75] Dabei hat Wowereit die nassforsche Art gerade nötig. Bei den Wahlen 2006 stimmten für ihn nur peinliche 17 , 9 Prozent der Wahlberechtigten, dennoch fühlt er sich als Bürgermeister aller Berliner. Und gingen auch nur drei Bürger zur Wahl, und wählten zwei von ihnen dieselbe Partei, so würde er sich strahlend vor der Kamera aufbauen und mit stolzgeschwellter Brust verkünden, das Ergebnis von 2 zu 1 habe seiner Partei eine überzeugende Zweidrittelmehrheit aller Bürger beschert.
Heribert Prantl von der
Süddeutschen Zeitung
nennt solche realitätsblinden Politiker, die nur noch die Wähler als vollwertige Bürger betrachten, »Agenda-Menschen«: Weil nicht sein kann, was nicht sein darf, nimmt man die Wähler als das eigentliche Volk. »Die politische Kommunikation konzentriert sich auf den noch wählenden Rest«, konstatiert Heribert Prantl. »Wahlabende sind Resteabende geworden, die Parlamente Resteparlamente … Die großen Parteien verhalten sich zu dieser Malaise wie der Autofahrer, der erklärt, ihm seien steigende Benzinpreise egal – er tanke ohnehin immer nur für dreißig Euro.« [76]
Für Prantl hat diese Betrachtungsweise einen gefährlichen Aspekt: »Die Missachtung der Dauer-Frustrierten, die Geringschätzung der Reformverlierer und politische Ausblendung der relativ Armen zeigt sich auch darin, dass sich an Wahlabenden einfach diejenige Partei zum Sieger erklärt, die weniger Stimmen verliert als die andere.« [77] Das ganze Brimborium erinnert an feudale Zeiten. Bei Hof wird ausgelassen getanzt und sich selbst gefeiert, während das Volk außen vor bleibt – es hat ja mit diesen Schmierenkomödien sowieso nichts zu tun.
Das Gefährlichste am Wahlboykott aus Politikerverdrossenheit – die für den Göttinger Politikprofessor Franz Walter den »Diebstahl an Demokratie« befördert [78] – ist aber der Verfall von Autorität und Gestaltungsspielräumen. Als Folge hat ein solches Parlament kaum noch Einfluss auf Entscheidungen, die treffen die politischen Anführer und »Strippenzieher« bei geheimer Mauschelei in irgendwelchen Hinterzimmern.
Gleichzeitig starren die Spitzenpolitiker auf Umfragen gebannter als das Kaninchen auf die Schlange. »Debakel für Kanzlerin Merkel und ihre Union«, fasste der
Stern
eine Umfrage vom Juli 2010 zusammen. Mit 28 Prozent lag die SPD trotz Gabriel und Nahles erstmals seit Jahren nur noch einen Prozentpunkt hinter der Union, die erstmals seit 2006 unter 30 Prozent rutschte. Auch die Werte der beiden anderen Oppositionsparteien änderten sich nicht: Die Grünen, die inzwischen außer mit den Zeugen Jehovas und Arminia Bielefeld um der Diäten und der Machtillusion willen praktisch mit jedem koalieren, verteidigten ihr damaliges Rekordhoch von 19 Prozent, die Linke hielt ihre 11 Prozent. [79] Nun weiß jeder, der schon einmal mit dem Entstehen solcher Umfragen zu tun hatte, dass hier mehr geschlampt und getürkt wird als beim Tageshoroskop der Privaten. Man denke nur an das Eingeständnis der legendären Wahlforscherin Elisabeth Noelle-Neumann, dass Demoskopie sich vorzüglich zur Demagogie eigne. [80]
Dennoch ist der Normalbürger nicht ganz so dumm
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