Die Reise ins Licht
Barkasse alles herauszuholen, wozu das kleine, gebrechliche Schiff noch fähig war.
Um aus der Schusslinie zu geraten, musste sie scharf nach Steuerbord abdrehen. Die Kannibalen nahmen die Verfolgung auf – der Weg nach Petersburg war nun abgeschnitten. In der Ferne zogen die vertrauten Umrisse der Werft vorbei. Dann passierten sie den Mittleren Hafen und fuhren immer weiter hinaus. Sie ließen den Kaufmanns- und den Küstenschiffhafen hinter sich zurück, doch hatten sie ihre Verfolger noch immer nicht abgeschüttelt.
Bisher hatten sie Glück gehabt. Ein paarmal hatten Panzergeschosse das weiche Metall der Bugwand durchsiebt, jedoch ohne lebenswichtige Teile zu treffen. Der Schlepper ihrer Verfolger war anscheinend nicht im besten Zustand – obwohl er qualmte wie eine Dampflokomotive, holte er sie nur äußerst langsam ein. Schwer schnaufend näherte sich das Schiff dem Damm. Vor ihnen zeichnete sich undeutlich die Durchlassanlage ab. Gleb erkannte sofort die riesigen Schwimmtore. Irgendwo dort im Tunnel hatten sie Ksiwa verloren.
Die Schüsse hinter ihnen wurden immer seltener – dann verstummten sie vollständig. Kurz darauf erschien Taran im Türrahmen des Steuerhauses.
»Die Patronen gehen ihnen aus. Sie sparen, die Schweinehunde. Jetzt warten sie erst mal.«
»Worauf?«
»Bis sie uns einholen, was denn sonst?«
»Und wann holen sie uns ein?« Der Junge sah seinen Meister beunruhigt an.
»Nur keine Panik. Vielleicht geht ihnen ja der Diesel aus. Unser Tank ist dagegen fast voll.«
»Und wenn …«
»Darüber denken wir erst nach, wenn es dazu kommt.«
Die Insel Kotlin war weit hinter ihnen zurückgeblieben. Der Stalker erklärte, dass sie nach seinen Schätzungen den Finnischen Meerbusen bereits verlassen hatten. Vor ihnen breitete sich die endlose Wasserfläche der Ostsee aus.
Die Kannibalen waren vom Heck aus noch immer in der Ferne zu erkennen. Ihr Schlepper war nun schon beträchtlich näher gekommen. Taran verfolgte unablässig jede Bewegung an Deck des feindliches Schiffes, um ja nicht die nächste Attacke zu verpassen. »Haben wir ihnen denn so die Suppe versalzen?«, fragte Gleb verzweifelt.
»Darum geht es nicht. Aber wenn wir die Sache mit ›Exodus‹ an die große Glocke hängen, ist es aus mit ihnen. Dann wird sich niemand mehr nach Kronstadt wagen, und sie werden elend verhungern.«
»Was sollen wir also machen?«
»Weiterfahren. Versuchen wir uns weiter backbord zu halten, Richtung Koporje-Bucht Ref. 40 . Wenn wir sie abhängen, schlagen wir uns von Sosnowy Bor Ref. 41 aus auf Schusters Rappen durch.«
Zwischenzeitlich schien es Gleb, dass sie ihre Verfolger abgeschüttelt hatten. Aber auf einmal qualmte das Schiff wieder stärker und beschleunigte. Von dem Schlepper drangen triumphierende Schreie zu ihnen herüber.
»Wie es aussieht, haben sie die zweite Schraube flottgekriegt. « Taran dachte einen Moment nach, dann drehte er
sich zu dem Jungen um. »Gib mir die Pistole. Und mach dich bereit, jetzt wird es heiß.«
»Warum schießt du nicht? Du hast doch ein Gewehr?«
»Ich hab nur noch wenig Munition. Nicht mehr lange, und sie machen Hackfleisch aus uns. Wir müssen also improvisieren. « Taran sprang wieder an Deck.
Gleb hielt sich krampfhaft am Steuerrad fest und versuchte sich zu konzentrieren. Schon begann das Gewehr des Stalkers zu knattern – offenbar hatten die Kannibalen wieder den Maschinengewehrstand erklommen. Zwei von ihnen erwischte er, aber der Dritte schaffte es bis zu der Waffe und nahm die Barkasse gezielt unter Beschuss. Taran ließ sich flach auf das Deck fallen und bedeckte schützend seinen Kopf. Der Junge krümmte sich auf dem Boden des Steuerhauses zusammen. Es war die reinste Hölle. Die Panzergeschosse durchlöcherten das nachgiebige Eisen wie Papier. Fetzen der Verschalung flogen in alle Richtungen. Das gesamte Heck war in wenigen Sekunden in Stücke gerissen. Der Stalker war jedoch wie durch ein Wunder in den Bug des Schiffes gekrochen und damit dem sicheren Tod entgangen. Wasser strömte in den Maschinenraum, die durchlöcherte Barkasse bekam bereits Schlagseite.
»Rückwärtsgang!«, brüllte Taran.
Gleb richtete sich auf und versetzte dem Steuerhebel einen Schlag. Die Barkasse heulte auf und verlangsamte so schnell ihre Fahrt, dass der Junge das Gleichgewicht verlor und mit den Zähnen gegen das Steuerpult prallte. Der Stalker sprang währenddessen auf die Beine, riss das Präzisionsgewehr hoch, zielte schnell und feuerte. Die
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