Die Reise Nach Helsinki
Zigarette aus ihrer Tasche
und zündete sie an. Noch so eine Marotte der Emanzen, die sie aus
der Hauptstadt mitgebracht hatte. Emma verzog das Gesicht und
wedelte den Rauch fort.
»Ich ziehe die Sachen nicht an,
Mutter, du kannst dich auf den Kopf stellen.«
Anna wurde rot, auf ihrer
Nasenwurzel erschien eine steile Falte, und sie strich über den
weichen Stoff ihres bequemen blaugrauen Kleides, dessen Rock hoch
in der Taille angesetzt war. »Außerdem ist das hier völlig in
Ordnung, ich weiß nicht, was du willst.«
»Wenn du in der Geschäftswelt
bestehen willst, musst du modisch auf der Höhe sein, das kann man
von diesem Sack ja nun weiß Gott nicht behaupten«, sagte Emma
beleidigt.
»Das ist Reformkleidung, das ist nun
wirklich der letzte Schrei. Über eure Humpelröcke lachen sich die
Berliner Intellektuellen doch schon lange kaputt. Du kannst
herzlich gerne allein gehen, ich will die Elberfelder nicht mit
meinem Anblick inkommodieren. Und deine polnische Wirtschaft kann
mir sowieso im Mondschein begegnen!«
Anna wurde laut und schrill,
ungerührt sah sie auf ihre Mutter, die rot anlief. »Und wenn du
diese dämliche Korsage weglassen würdest, ginge es dir auch besser,
dann bekämst du nämlich mehr Luft!«
Emma trippelte empört zur Tür. »Es
reicht mir mit deinen Unverschämtheiten, es war ein Fehler, alles
war ein Fehler, ich habe es deinem Vater von Anfang an gesagt, ich
war immer dagegen, wie er dich erzogen hat. Das haben wir jetzt
davon. Sieh zu, wo du einen Mann herkriegst, allmählich ist mir das
wirklich
egal.«
»Das lass mal meine Sorge sein«,
zischte Anna, »wenn das dein einziges Problem ist!«
Emma warf die Tür des Kontors ins
Schloss. Louise war ganz grau geworden und schlug die Hände vor das
Gesicht.
»Es bringt Unglück, dieser ewige
Streit bringt Unglück«, flüsterte sie, »könnt ihr denn nicht
Frieden halten? Es ist schlimm geworden in diesem Haus, nichts als
Streit und Unfrieden, dabei könnten wir es so schön
haben.«
Anna tätschelte ihr den Arm, dann
ging sie die Treppe hinauf in ihr Zimmer in der dritten Etage. Sie
öffnete das Fenster zum Wall, von dem der Verkehr laut
heraufbrandete, und hielt ihr Gesicht in die warme Maisonne. Mit
den Augen suchte sie den gegenüberliegenden Bürgersteig ab und
glaubte, die zerzausten Locken im Augenwinkel zu sehen, doch es war
ein Irrtum. Aber ein anderer stand da, ein fremd aussehender Mann
in einem einfachen dunkelgrauen Anzug, mit kantigem Gesicht, einer
breiten Nase und großen, hellen, auffällig blauen Augen mit
staunendem Ausdruck. Er sah hinauf, drehte sich aber schnell um,
als er Anna bemerkte, und verschwand zwischen den wuselnden
Menschen auf dem Bürgersteig. Ein Russe, es konnte ein Russe sein,
sie hatte viele in Berlin gesehen. Was machte der hier, und warum
beobachtete er ihr Haus?
Schnell schloss sie das Fenster und
ging hinunter in die zweite Etage, in der die Wohnräume lagen. Sie
nahm sich vor, das Mittagessen schweigend zu verzehren, egal, wie
sehr ihre Mutter sie reizen würde.
Pekka stand im Türrahmen, als sie
das Essen fast beendet hatten. Anna sah sofort, dass er getrunken
hatte, seine Augen waren nass und gerötet, sie flackerten von einer
zur anderen und verweilten schließlich bei Anna.
»Kullan muru [ Liebstes Kümmelchen ] , da bist du ja, Papa hat dich so lange nicht
gesehen, komm zu isi [Papa] komm zu isukki.«
Er streckte die Arme aus und sah sie
flehend an. Anna mochte es nicht, wenn er betrunken war, außerdem
ärgerte sie, dass er sich vor Emma diese Blöße gab.
»Leg dich aufs Ohr«, sagte sie
ungehalten, »dann trinkst du einen starken Kaffee, und heute Abend
reden wir zusammen. Ich gehe nicht ins Thalia.«
Emma versteinerte beim Anblick ihres
Mannes, sie würdigte ihn keines Blickes und strahlte eisigen
Widerwillen aus. Louise sah bedrückt auf ihren Teller.
Im Gegensatz zu den meisten Männern
wurde Pekka nicht aggressiv, wenn er getrunken hatte, sondern
ausgesprochen sanftmütig und anhänglich. In früheren Jahren hatte
er sich damit gebrüstet, dass er der einzige finnische Mann auf
dieser Welt sei, der die Frauen im Rausch nicht prügeln würde, er
erzählte Witze und Geschichten, war charmant und liebevoll. Später
bewirkte der Alkohol, dass er schnell ins Weinerliche kippte, vor
allem, wenn Emma ihn abkanzelte, zerfloss er vor Selbstmitleid.
»Eine Hexe ist sie, deine Mutter, eine noita, in ihrer Gegenwart erfriert
man, lieber schlage ich mir ein Loch
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