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Die Reise Nach Helsinki

Die Reise Nach Helsinki

Titel: Die Reise Nach Helsinki Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christiane Gibiec
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einem Kleid nach der neuesten Mode beauftragt. Es
war am Vormittag fertig geworden und lag jetzt cremefarben und
hochgeschlossen über Pekkas großem Ohrensessel im Kontor. Louise
hatte die heikle Aufgabe, Anna zum Tragen dieses Kleides zu
überreden.
    »Deine Mutter hat das Kleid vom
Schneider geholt«, sagte sie so beiläufig wie möglich, nachdem sie
sich vergewissert hatte, dass die Ladentür abgeschlossen war. »Wir
können ja mal eben probieren, ob es sitzt.«
    Anna schien wenig geneigt, sie nahm
das Gewand hoch und ließ es wieder fallen, den dazugehörigen
ebenfalls cremefarbenen Hut in der Größe eines Wagenrades, üppig
geschmückt mit grün schillernden Federn, bedachte sie nur mit einem
Achselzucken. An Pekkas Sessel lehnte außerdem eine überlange
Korsage, die wie ein Schlauch geschnitten und mit Fischbeinstäben
versteift war. Anna berührte sie mit spitzen Fingern und stieß sie
dabei auf den Boden.
    »Mutter glaubt doch nicht wirklich,
dass ich mich in so eine Konservendose zwänge? Damit kann doch kein
Mensch richtig laufen. In Elberfeld mag das ja Mode sein, in Berlin
würde keine ernst zu nehmende Frau damit rumlaufen. Das sind keine
Kleider, das sind Frauengefängnisse, jawohl, anders kann man das
nicht nennen. Und diesen Kopfdeckel setze ich im Leben nicht auf,
Tante Louise, ich mache mich doch nicht zum Gespött.«
    »Das ist Titanic-Stil, der letzte
Schrei.«
    Louises Einwand bewirkte nur ein
spöttisches Auflachen.
    »Titanic-Stil, das ist ja wohl das
Lächerlichste, was ich je gehört habe. Kein Wunder, dass die
untergegangen ist mit Mann und Maus, keine Chance zur Flucht, in so
was kann sich doch kein Mensch bewegen. Humpelröcke nennt man die,
das ist was für Ölsardinen, ich für meinen Teil habe keinen
Bedarf«, schnaubte Anna.
    »Versündige dich nicht an den armen
Opfern, die in der Tiefe versunken sind, in der eiskalten
See.«
    Seitdem der Luxusdampfer Titanic vor
sechs Wochen mit einem Eisberg zusammengestoßen und untergegangen
war, kam Louise bei jeder Gelegenheit auf das Thema zu sprechen.
Schaudernd stellte sie sich vor, wie die Menschen ihrem Tod ins
Auge sehen mussten, wie sich das Schiff langsam, ganz langsam
geneigt hatte und Tausende schreiender Menschen ins eiskalte Wasser
gerutscht waren. Täglich standen neue, grausige Einzelheiten in der
Zeitung, die von überlebenden Zeugen berichtet wurden. »Das war ein
Menetekel«, flüsterte Louise, »der Mensch ist nicht allmächtig, der
Untergang des Abendlandes ist nahe.«
    Louise hatte während Annas
Berlinaufenthalt abgenommen, sie war fahrig und müde, manchmal
glänzten ihre Augen fiebrig. Ihre Haare waren stumpf geworden, die
Lachgrübchen in ihren Wangen und die Fröhlichkeit, die früher aus
ihren graublauen Augen strahlte, waren fast völlig verschwunden.
Anna drang in sie, um den Grund zu erfahren, aber Louise wich aus,
sie habe sich von einem Magen-Darm-Infekt vor ein paar Wochen wohl
nicht richtig erholt. Annas Vorschlag, sie solle sich einen Urlaub
gönnen und mal richtig ausspannen - was sie seit Jahren nicht getan
hatte -, wies sie allerdings entrüstet zurück. Das sei nun wirklich
nicht nötig, außerdem müsse Anna eingearbeitet werden, und die
Kriebel könne den Laden doch niemals allein schaffen, nein, nein,
das werde schon vorbeigehen.
    Emma Salander betrat jetzt das
Kontor. Auch sie hatte sich während Annas Abwesenheit verändert,
sie war dicker geworden, und in ihr dunkles, kräftiges, leicht
gewelltes Haar mischten sich die ersten grauen Strähnen. Außerdem
wirkte sie übellaunig und reagierte noch gereizter als sonst auf
Pekka und Anna, wenn sie sich nicht nach ihrem Geschmack
verhielten. Vielleicht hing es mit ihrem vierzigsten Geburtstag
zusammen, der ein Dreivierteljahr zurücklag und vor dem es ihr
schon jahrelang vorher gegraust hatte. »Was für ein biblisches
Alter«, hatte sie gejammert, »du lieber Gott, danach kommt doch nur
noch das Grab.«
    Über Emmas Busen, ihren Hüften und
ihren Oberschenkeln spannte sich ein dunkelgrünes,
hochgeschlossenes Kleid, das erst in Höhe der Waden zu einem
glockigen Volant aufsprang. Unter dem glänzenden Stoff zeichnete
sich eine Korsage ab, die zwar von etwa doppeltem Ausmaß derjenigen
war, die vor Annas Füßen lag, aber sonst ähnlich geschnitten sein
musste.
    »Und? Wie findest du das Kleid? Der
Hut ist doch hinreißend, was ganz Exklusives.« Emma sah ihre
Tochter erwartungsvoll an.
    Anna ließ sich in Pekkas
Schreibtischstuhl fallen, kramte eine

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