Die Reisen des Paulus
Scharlatan, seine Botschaft eine Lüge. Das war schlimm genug, aber Paulus hatte es erwartet. Was er nicht erwartet hatte, war, daß seine Lehre von der baldigen Wiederkunft Jesu zu einem völligen Verfall der Moral führte. Wenn das Ende der Welt nahe herbeigekommen war, warum sollte man sich dann noch um sein tägliches Leben kümmern? Warum arbeiten? Paulus’ erster Brief an die Thessalonicher versucht, Mut zuzusprechen und im Glauben zu bestärken. Er diktierte ihn höchstwahrscheinlich dem Timotheus, und der dürfte ihn mit einer Rohrfeder und Tinte, die aus Gummiharz und Ruß gefertigt war, auf Papyrus geschrieben haben, jenen Papyrus, der Ägyptens wichtigsten Beitrag zum Verwaltungs- und Nachrichtenwe-sen der Antike darstellte. Abgefaßt ist der Brief im demoti-schen Griechisch der damaligen Zeit, untermischt natürlich mit einigen Hebraismen. Dem Stil antiker Briefe gemäß, beginnt er mit einem Grußwort, dann folgt das Wesentliche, und am Ende schließt sich ein Segenswunsch an. Vermutlich brachte Timotheus ihn selbst nach Thessalonich. Er arbeitete für Paulus anscheinend nicht nur als Sekretär, sondern auch als Kurier. Bezeichnenderweise beschließt Paulus den zweiten Brief an die Thessalonicher mit einer Wendung, die man geradezu ein »Markenzeichen« nennen könnte: »Der Gruß mit meiner, des Paulus, Hand. Das ist das Zeichen in 285
allen Briefen. So schreibe ich. Die Gnade unsers Herrn Jesus Christus sei mit euch allen!« Also gab es auch gefälschte Briefe, Machwerke von Feinden der neuen Lehre – fast mit Sicherheit orthodoxe Juden. Denn warum sollten sich Heiden darum bekümmern, was ein unbedeutender Ausländer an ein unbedeutendes Ausländergrüppchen schrieb?
Doch wie anderswo führte auch in Korinth Paulus’ missionarischer Eifer schließlich zu Komplikationen. Die Juden bestritten die Stichhaltigkeit der Argumente, mit denen er beweisen wollte, daß Christus der Messias sei. Sie wollten den Erlöser Israels einfach nicht mit einem Mann gleich-gesetzt wissen, der zwischen zwei Dieben gekreuzigt worden war, und sie wollten nicht hören, daß dies auf Betreiben der Juden geschehen sei. Man sah Paulus nicht mehr gerne in der Synagoge. Man beschimpfte ihn und lästerte seinen Messias. Paulus antwortete darauf mit einer traditionellen Geste. Er schüttelte den Staub von seinen Kleidern und sagte: »Euer Blut komme über euer Haupt; rein gehe ich von nun an zu den Heiden!« Trotzdem vermochte er es, den Krispus zu bekehren, der in der Apostelgeschichte als »der Vorsteher der Synagoge« bezeichnet wird. Er taufte Krispus und seine Familie. Man kann also kaum behaupten, daß ihm bei seinem eigenen Volk überhaupt nichts gelungen sei. Jetzt wohnte er bei einem gewissen Titius Justus, einem Proselyten, dessen Haus neben der Synagoge stand.
Justus dürfte, seinem Namen nach zu schließen, Römer gewesen sein, vielleicht ein Nachfahr von einem jener Veteranen oder Freigelassenen, die Julius Cäsar in Korinth angesiedelt hatte. Nun erhielt Paulus eine Geldspende von der Gemeinde in Philippi. Wahrscheinlich gab er sein Hand-286
werk auf, nachdem er ins Haus des Justus gezogen war. Paulus hatte mittlerweile über ein Jahr unbeirrt gepredigt und missioniert. Die meisten Neubekehrten waren wohl griechischer oder römischer Abkunft. Fast alle Juden hatten Paulus abgewiesen, doch er fand Trost in einem Traum. Jesus sprach zu ihm und sagte: »Fürchte dich nicht, sondern rede und schweige nicht! denn ich bin mit dir, und niemand soll sich unterstehen, dir zu schaden; denn ich habe ein großes Volk in dieser Stadt.« Im Sommer 52 kam es zu einer dra-matischen Wende. Der neue Prokonsul von Achaia, Lu-
cius Junius Annaeus Gallio, trat im Juli dieses Jahres sein Amt an. Er war der Bruder des Philosophen Seneca und ein recht angesehener Mann. Der Dichter Statius nennt ihn den »sanften Gallio«. Seneca selbst schrieb, keiner sei »so freundlich zu jedermann wie Gallio«. Also keiner von den strengen, ja grausamen römischen Prokonsuln, deren es so viele gab, sondern ein feinfühliger und feinsinniger Mann.
Die jüdische Gemeinde machte einen schweren Fehler. Sie dachten nun, da sie eine neue Obrigkeit hatten, könnten sie mit ihrem Wunsch durchdringen. Es war ein sehr einfacher Wunsch: Paulus sollte aus Korinth gewiesen werden.
»Als aber Gallio Landvogt war in Achaja, empörten sich die Juden einmütig wider Paulus und führten ihn vor den Richterstuhl …« Die Apostelgeschichte erwähnt in diesem
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