Die Reisen Des Paulus
sich für die Schule Hillels. Wenn jemand das Glück hat, in seiner Jugend gute Lehrer zu haben, dann werden die Vorschriften, die ihm in diesen formbaren Jahren eingeschärft wurden, höchstwahrscheinlich das ganze Leben lang tief in seinem Charakter verwurzelt bleiben. Es ist interessant, einen Blick auf die Unterweisungen zu werfen, die Paulus von seinem Lehrer erhalten haben könnte. Von den vielen Aussprüchen, die dem großen Hillel zugeschrieben werden (und die Gamaliel weitergegeben haben dürfte), ähneln so manche der Lehre Christi. Typisch sind die folgenden: »Richte deinen Nachbarn nicht, bevor du an seiner Stelle bist«; »Wer die Worte der Lehre errungen hat, hat das Leben in der Welt errungen, die da kommen wird«; »Wenn ich mich zerknirsche, werde ich erhoben«; »Wer sich einen Namen machen will, verliert seinen Namen; wer sein Wissen 59
nicht mehrt, mindert es; wer nicht lernt, ist des Todes schuldig; wer um einer Krone willen arbeitet, ist verloren«; »Was dir widerwärtig ist, das füge deinem Nachbarn nicht zu; dies ist das ganze Gesetz, alles andere ist nur Erläuterung desselben.« Nach seinem Tode klagte man um Hillel als »den De-mütigen, den Frommen, den Schüler des Esra«.
Die Tradition will wissen (irrt sich hier jedoch aller Wahrscheinlichkeit nach), daß Gamaliel seinem Vater als Nasi oder Vorsitzender des Sanhedrin nachfolgte. Jedenfalls zählte er sicherlich zu den einflußreichsten Männern und erlauchtesten Geistern seiner Zeit. Als Paulus studierte, ge-hörten etwa tausend Schüler zum Haus der Auslegung, dem Kolleg der Rabbiner. Es spricht für Gamaliels Liberalismus, daß neben dem Gesetz und den Propheten auch griechische Literatur (vermutlich in sorgfältiger Auswahl) gelesen wurde. Gamaliel war gewiß ein bemerkenswerter Mann, der erste übrigens, der den Titel Rabban (Meister) erhielt. Wie man aus der Apostelgeschichte ersieht, rettete er Petrus und andere Apostel vor der Hinrichtung. Er beschwor die Mitglieder des Sanhedrin, keine Maßnahmen gegen diese An-hänger Jesu zu ergreifen: »Und nun sage ich euch: Lasset ab von diesen Menschen und lasset sie gehen! Ist der Rat oder das Werk aus den Menschen, so wird’s untergehen; ist’s aber aus Gott, so könnt ihr sie nicht hindern; auf daß ihr nicht erfunden werdet als solche, die wider Gott streiten wollen.«
Sein Ruf war so groß, daß es in späteren Jahren hieß: »Als Rabban Gamaliel der Ältere starb, sank die Achtung vor der Thora, Reinheit und Frömmigkeit schwanden dahin.« Ein übertriebenes Kompliment vielleicht, aber es zeigt den hohen Stand des Mannes an, der Paulus’ Lehrer war.
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Um die Denkweise zu verstehen, die Paulus und sei-
ne Mitstudenten während der Adoleszenz und der frühen Mannesjahre in sich aufnahmen, ist es nötig, die Grundlagen der Thora zu betrachten. (Sie wirkt heute noch in einem Gutteil des westlichen Denkens nach, auch wenn
dieses Denken mittlerweise verweltlicht ist.) Thora wird de-finiert als: »Die Lehren und Unterweisungen sowie die gerichtlichen Entscheidungen, welche die althebräischen Priester als Offenbarung des göttlichen Willens bezeichneten; das mosaische oder jüdische Gesetz; daher auch der Name für die Bücher des Gesetzes, den Pentateuch.« Dem jüdischen Glauben nach offenbarte sich in der Thora Gottes Wille. Die Pharisäer behaupteten, sie umgriffe alle Lebens-bereiche, das Nationale wie das Persönliche. Es gebe keine Situation, der man nicht mit einer korrekten Auslegung der Thora gerecht werden könne. Das hatte natürlich lebhafte und unaufhörliche Debatten über die Auslegung des Gesetzes zur Folge. Die Studenten verbrachten eine Menge Zeit mit haarspalterischen Definitionen und Argumenten, die ebenso spitzfindig und verschachtelt, ja bizarr waren wie jene, die Jahrhunderte später die byzantinischen Gelehrten und Geistlichen verwirren sollten.
Eine derart totale religiöse Philosophie führte unvermeidlich zur Einengung, zu einer Art geistiger Zwangsjak-ke. Die Einzelheiten des Gesetzes wurden so minutiös ausgelegt, daß es selbst für den strenggläubigsten Lehrer oder Schüler fast unmöglich war, allen seinen Anforderungen gerecht zu werden. Es hieß sogar, wenn auch nur ein einziger Jude ein völlig rechtschaffenes Leben führen und sich nur einen einzigen Tag buchstabengetreu ans Gesetz hal-61
ten würde, werde man den Regenbogen – Gottes Zeichen für seinen Bund mit den Menschen – nicht mehr sehen
und der Messias selbst werde auf der
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