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Die Rekonstruktion des Menschen

Die Rekonstruktion des Menschen

Titel: Die Rekonstruktion des Menschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erik Simon (Hrsg)
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Candide, Erde essend, auf Nawa gewartet hatte. Wie lange das schon her ist, dachte er, fast so lange wie die Biostation… Biostation… Er brachte kaum die Füße hoch; wäre ihm nicht der Schatten auf den Fersen gewesen, er hätte die Verfolgung gewiß schon aufgegeben. Plötzlich blieben die Frauen stehen und sahen ihn an. Ringsum war Dickicht, der Boden unter den Füßen war warm und morastig. Nawa stand mit geschlossenen Augen, leicht schwankend, da, während ihn die Frauen nachdenklich musterten.
Da erinnerte er sich.
»Wie komme ich zur Biostation?« fragte er.
Auf ihren Gesichtern spiegelte sich Erstaunen, da wurde er sich der Tatsache bewußt, daß er in seiner Heimatsprache gesprochen hatte. Was ihn selbst verblüffte. Er konnte sich schon nicht mehr erinnern, wann er zum letztenmal so gesprochen hatte.
»Wie komme ich zu den Weißen Felsen?« fragte er.
Die Schwangere sagte, spöttisch lächelnd: »Das also will er, unser Böckchen…« Sie hatte sich nicht an ihn, sondern an Nawas Mutter gewandt. »Komisch, sie begreifen nicht das geringste. Nicht einer von Ihnen begreift etwas. Stell dir doch nur mal vor, wie sie zu den Weißen Felsen trotten und plötzlich mitten in die Kampfzone geraten!«
»Sie verfaulen dort bei lebendigem Leibe«, sagte Nawas Mutter versonnen, »sie trotten dahin, verfaulen im Laufen und bemerken nicht mal, daß sie nicht vom Fleck kommen, sondern auf der Stelle treten… Aber soll er ruhig gehen, für die Auflokkerung kann das nur gut sein. Verfault er – ist es von Nutzen, löst er sich auf – ist es gleichfalls von Nutzen… Doch halt, vielleicht ist er geschützt? Bist du geschützt?« fragte sie Candide.
»Ich verstehe dich nicht«, sagte Candide tonlos.
»Warum fragst du ihn, meine Liebe? Woher soll er geschützt sein?«
»In dieser Welt ist alles möglich«, sagte Nawas Mutter. »Ich hab’ von solchen Dingen schon gehört.«
»Das ist doch Geschwätz«, erwiderte die Schwangere. Sie musterte Candide erneut. »Weißt du was«, fuhr sie fort, »durchaus möglich, daß er hier von größerem Nutzen sein kann. Erinnerst du dich noch, was die Erzieherinnen gestern gesagt haben?«
»Ach so«, sagte Nawas Mutter. »Na ja, vielleicht hast du recht… Soll er also hierbleiben.«
»O ja«, sagte plötzlich Nawa, »bleib hier.« Sie schlief nun nicht mehr und schien ebenfalls ein ungutes Gefühl zu harten. »Bleib hier, Schweiger, geh nirgends hin, wozu mußt du jetzt noch fort? Du wolltest doch in die Stadt, dieser See ist die Stadt, nicht wahr, Mutter? – Oder bist du etwa ärgerlich auf meine Mutter? Das brauchst du nicht, im allgemeinen ist sie gutherzig, nur heute hat sie aus irgendeinem Grund schlechte Laune… Wegen der Hitze wahrscheinlich…«
Die Mutter griff nach Nawas Hand. Candide sah, wie sich über ihrem Kopf schnell das bekannte lila Wölkchen verdichtete. Ihre Augen wurden für Sekundenbruchteile glasig und schlossen sich, dann sagte sie: »Komm, Nawa, wir werden schon erwartet.«
»Und was ist mit Schweiger?«
»Der bleibt hier… Er hat in der Stadt absolut nichts verloren.«
»Ich will aber, daß er bei mir bleibt! Er ist doch mein Mann, Mutter, begreifst du denn das nicht, sie haben ihn mir zum Mann gegeben, er ist schon lange mein Mann…«
Die beiden Frauen zogen ein schiefes Gesicht.
»Na komm schon«, sagte Nawas Mutter. »Du hast noch nicht das geringste begriffen… Niemand braucht ihn hier, er ist überflüssig, sie alle sind überflüssig, sie sind – ein Irrtum… So komm endlich! Also schön, kannst nachher zu ihm gehn… wenn du dann noch Lust hast.«
Nawa sträubte sich, sie spürte offenbar dasselbe wie Candide – daß sie sich für immer trennten. Die Mutter schleppte sie am Arm ins Dickicht hinein, sie aber schaute sich immerzu um und rief: »Geh nicht fort, Schweiger! Ich komm’ bald zurück, laß dir ja nicht einfallen, ohne mich wegzugehn, das wär’ nicht anständig, es wär’ einfach gemein! Wenn es ihnen nicht gefällt, bist du eben nicht mein Mann – deine Frau bleib’, ich trotzdem. Ich hab’ dich gesund gepflegt, und du mußt auf mich warten! Hörst du, du mußt warten…!«
Er schaute ihr hinterher, winkte schwach mit der Hand, nickte zustimmend und gab sich die größte Mühe zu lächeln. Leb wohl, Nawa, dachte er, leb wohl. Sie waren nicht mehr zu sehen, ringsum nur Dickicht, lediglich Nawas Stimme drang noch zu ihm herüber. Dann verstummte auch sie, ein Plätschern war zu hören, es wurde still. Er schluckte einen Klumpen

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