Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Rekonstruktion des Menschen

Die Rekonstruktion des Menschen

Titel: Die Rekonstruktion des Menschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erik Simon (Hrsg)
Vom Netzwerk:
hinunter, der ihm im Hals steckte, und fragte die Schwangere: »Was habt ihr mit Nawa vor?«
Sie musterte ihn aufmerksam.
»Was wir mit ihr vorhaben?« sagte sie nachdenklich. »Das soll nicht deine Sorge sein, Böckchen. Einen Mann jedenfalls braucht sie nicht mehr. Und auch keinen Vater… Die Frage ist nur, was wir mit dir machen? Schließlich bist du von den Weißen Felsen, wir können dich also nicht einfach laufen lassen…«
»Was wollt ihr eigentlich?« fragte Candide.
»Was wir wollen… Jedenfalls brauchen wir keine Männer.« Sie fing Candides Blick auf, der über ihren Leib glitt, und lachte verächtlich auf. »Wir brauchen sie nicht, kannst beruhigt sein, brauchen sie wirklich nicht. Versuch wenigstens einmal in deinem Leben, kein Böckchen zu sein. Versuch dir eine Welt ohne Böcke vorzustellen…« Sie redete drauflos, ohne nachzudenken, genauer gesagt, ihre Gedanken waren woanders. »Was kannst du denn sonst noch, Böckchen? Sag mir, was du sonst noch kannst.«
Hinter all ihren Worten, ihrem Ton, ihrer Verachtung und dem gleichgültigen, herrischen Gehabe verbarg sich etwas Wesentliches, etwas Unangenehmes und Furchtbares, das schwer zu bestimmen war. Candide entsann sich plötzlich, ohne es sich selbst erklären zu können, der schwarzen quadratischen Tür, er hatte Karl mit den beiden Frauen vor Augen, die ebenso gleichgültig und herrisch gewesen waren.
»Hörst du mich?« fragte die Schwangere. »Was kannst du sonst noch?«
»Gar nichts«, sagte Candide kraftlos.
»Vielleicht kannst du herrschen?«
»Das konnte ich früher mal«, sagte Candide. Geh doch zum Teufel, dachte er, was legst du dich mit mir an! Ich hab’ dich gefragt, wie ich zu den Weißen Felsen komme, du aber legst dich mit mir an… Er begriff plötzlich, daß er Angst vor ihr hatte, andernfalls wäre er längst gegangen. Sie war hier die Herrin, er aber nur ein jämmerliches, dreckiges, dummes Böckchen.
»Du konntest es mal«, wiederholte sie. »Dann befiehl diesem Baum hier, sich hinzulegen!«
Candide sah den Baum an. Es war ein großer, dicker Baum mit ausladender Krone und haarigem Stamm. Er zuckte die Schultern.
»Na gut«, sagte sie. »Dann erschlag diesen Baum… Das kannst du auch nicht? Kannst du überhaupt etwas Lebendiges tot machen?«
»Töten?«
»Nicht unbedingt töten. Töten kann auch ein Handfresser. Ich meine, etwas Lebendiges tot machen. Es veranlassen, tot zu sein. Kannst du das?«
»Das versteh’ ich nicht«, sagte Candide.
»Er versteht es nicht… Ja, womit beschäftigt ihr euch denn dort oben auf euren Weißen Felsen, wenn du nicht mal das verstehst? Und etwas Totes lebendig machen kannst du auch nicht?«
»Nein.«
»Was kannst du dann? Womit hast du dich auf den Weißen Felsen abgegeben, bevor du heruntergefallen bist? Nur mit Fressen und Frauenschänden?«
»Ich hab’ den Wald erforscht«, sagte Candide.
Sie sah ihn streng an. »Wag es nicht, mich anzulügen. Einer allein kann unmöglich den Wald erforschen. Das wär ja so, als wollte er die Sonne erforschen. Wenn du mit der Wahrheit nicht herausrücken willst, sag es gleich.«
»Ich habe tatsächlich den Wald erforscht«, sagte Candide. »Ich habe…«, er druckste herum, »ich habe die kleinsten Wesen im Wald erforscht. Solche, die man mit dem Auge nicht sieht.«
»Du lügst wieder«, sagte die Frau geduldig. »Man kann unmöglich erforschen, was man mit dem Auge nicht sieht.«
»Doch, es ist möglich«, sagte Candide. »Man braucht nur…«, er druckste wieder, »ein Mikroskop… Linsen… Instrumente… Das läßt sich schwer wiedergeben, es läßt sich nicht übersetzen. In einem Tropfen Wasser zum Beispiel«, sagte er, »kann man mit Hilfe des nötigen Zubehörs Tausende und aber Tausende winziger Lebewesen sehen…«
»Dafür ist keinerlei Zubehör nötig«, sagte die Frau. »Ich sehe schon, ihr auf euren Weißen Felsen mit euren toten Sachen treibt regelrechte Unzucht. Ihr degeneriert. Ich hab’s schon längst bemerkt, daß ihr die Fähigkeit eingebüßt habt, das zu sehen, was jeder beliebige Mensch, sogar ein dreckiger Mann im Wald sieht… Augenblick, sprichst du von kleinen Wesen oder den kleinsten? Meinst du vielleicht die Erbauer?«
»Mag sein«, sagte Candide. »Ich verstehe dich nicht. Ich spreche von kleinen Lebewesen, die einen krank machen, aber auch heilen können, die einem helfen, Nahrung herzustellen, und die in großer Zahl überall vorhanden sind… Ich habe ihre Beschaffenheit hier bei euch im Wald untersucht, die

Weitere Kostenlose Bücher