Die Rekonstruktion des Menschen
Unterschiedlichkeit ihrer Arten und ihre Fähigkeiten…«
»Auf den Weißen Felsen sind sie aber ganz anders«, sagte die Frau sarkastisch. »Na, laß gut sein, ich hab’ schon begriffen, womit du dich beschäftigt hast. Über unsere Erbauer hast du natürlich keinerlei Macht. Jeder Dorftrottel kann mehr als du… Wo soll ich dich bloß hinstecken? Immerhin bist du von allein gekommen…«
»Ich gehe«, sagte Candide müde. »Ich gehe, leb wohl.«
»Halt, warte…«, rief sie. »Du sollst stehenbleiben, hab’ ich gesagt!« Candide spürte, wie glutheiße Zangen seine Ellbogen von hinten zusammenpreßten. Er wollte sich losreißen, doch es gelang nicht. Die Frau dachte laut vor sich hin: »Schließlich und letztlich ist er von allein gekommen. So etwas gibt es. Laß ich ihn laufen, kehrt er in sein Dorf zurück und wird völlig nutzlos sein… Jagd auf solche wie ihn zu machen hat keinen Sinn. Doch wenn sie von selbst kommen… Weißt du, was ich mit dir mache?« sagte sie. »Ich gebe dich zu den Erzieherinnen, zur Verrichtung nächtlicher Arbeiten. Einige Fälle dort waren immerhin erfolgreich… Jawohl, zu den Erzieherinnen.« Sie machte eine Handbewegung und schritt dann ohne jede Hast, leicht watschelnd, ins Dickicht hinein.
Candide spürte, daß er zum Pfad geschoben wurde. Seine Ellbogen waren fühllos, er hatte den Eindruck, sie seien völlig verkohlt. Er wollte sich mit aller Gewalt losreißen, doch die Umklammerung wurde nur fester. Er hatte keine Vorstellung, was mit ihm werden, wohin er gebracht werden sollte, wer diese Erzieherinnen und was das für nächtliche Arbeiten waren. Er entsann sich nur seiner schrecklichen Eindrücke: Karls Gestalt inmitten der schluchzenden Menge und der Handfresser, der zu einem grellfarbenen Klumpen geworden war.
Candide nahm allen Mut zusammen und versetzte dem Schatten einen Fußtritt, er schlug blindlings nach hinten aus, voller wilder Verzweiflung und im Bewußtsein, daß ihm dieser Trick kein zweites Mal gelingen würde. Sein Fuß drang in etwas Weiches und Heißes, der Schatten gab ein Schnaufen von sich und lockerte den Griff. Candide fiel mit dem Gesicht ins Gras, sprang hoch, drehte sich um und schrie auf – der Schatten griff, die unwahrscheinlich langen Arme weit ausgestreckt, erneut nach ihm. Und keinerlei Waffe zur Abwehr: weder Grastod noch Gärmasse, weder Stock noch Stein. Der morastige warme Grund gab unter den Füßen nach. Doch im letzten Augenblick durchzuckte es ihn wie ein Blitz. Er fuhr mit der Hand in den Hemdausschnitt, und als sich der Schatten auf ihn stürzte, versetzte er ihm mit dem Skalpell einen Hieb zwischen die Augen. Mit dem ganzen Gewicht seines Körpers rammte er den Feind und riß die Klinge schaudernd von oben bis hinunter zur Erde. Dann ließ er sich kraftlos fallen.
Er lag da, die Wange ins Gras gepreßt, und schaute den Schatten an, der noch stand, schwankend und langsam aufklappend wie ein Koffer, in der ganzen Länge seines orangenfarbenen Körpers, bis er endlich schwer zu Boden stürzte und alles ringsum mit einer dicken weißen Flüssigkeit zudeckte. Noch ein paar Zuckungen – dann erstarrte er. Candide erhob sich und ging langsam davon. Den Pfad entlang. Möglichst weit fort von diesem Ort. Vage erinnerte er sich daran, daß er noch auf jemanden warten, etwas in Erfahrung bringen, etwas tun wollte. Doch das war jetzt alles unwichtig. Wichtig war, möglichst weit fortzugehn, obwohl er sich darüber im klaren war, daß es ihm nicht gelingen würde zu entkommen. Es würde weder ihm gelingen noch den vielen, vielen anderen.
Fünftes Kapitel
Candide erwachte, schlug die Augen auf und starrte die niedrige kalkfleckige Decke an. Dort zogen wieder die Arbeitsameisen entlang: von rechts nach links die beladenen, von links nach rechts die unbeladenen. Einen Monat zuvor war es umgekehrt gewesen, einen Monat zuvor hatte es auch noch Nawa gegeben. Sonst jedoch hatte sich nichts verändert. Übermorgen gehen wir fort, dachte er.
Am Tisch saß der Alte, polkte im Ohr und schaute ihn an. Der Alte war noch mehr abgemagert, seine Augen lagen tief in den Höhlen, er hatte fast keine Zähne mehr. Wahrscheinlich würde er bald sterben, der Alte.
»Wie ist so was bloß möglich, Schweiger«, sagte der Alte weinerlich, »bei dir findet sich ja nicht ein Krümel zu essen. Seit sie dir Nawa abgejagt haben, hast du keinen Bissen mehr im Haus, weder morgens noch am Mittag. Dabei hab’ ich dir gesagt: Geh nicht fort, das darf man nicht. Weshalb
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