Die Reliquienjägerin: Historischer Roman (German Edition)
unermesslichen Schatz der heiligen Reliquien zu schaffen.
»Seid willkommen, Heerscharen des Himmels!«, rief er dem Schwarm zu. »Lasst uns gemeinsam kämpfen für das Reich Gottes auf Erden, für den Sieg des wahren Glaubens über die ungläubigen Ketzer, für die stolze Stadt Prag, die ich zur Krone des Heiligen Römischen Reiches machen werde!«
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DUNKLE B EDROHUNG
O KTOBER 1349/T ISCHRI 5110
»Mach schon, du musst los, Kind!« Esther schob Rebekka sanft auf das dunkle Loch zu.
»Aber was ist mit euch?«, rief Rebekka. »Ohne euch will ich nicht von hier fort.«
Ihr Vater trat vor und nahm ihr Gesicht sanft in seine Hände. »Du bist meine Tochter, Rebekka, das wirst du immer bleiben.« Er seufzte und schaute ihr in die Augen. »Aber du bist keine von uns, du bist keine Jüdin, nicht von Geburt. Gott hat ein anderes Schicksal für dich gewählt. Seiner Stimme wirst du von nun an folgen. Sie wird dich durch die Finsternis ans Licht führen.«
Die Worte ihres Vaters trafen Rebekka wie ein Faustschlag in den Magen. »Aber wie sehen wir uns wieder?« Sie vermochte kaum ihre Angst zu beherrschen.
Ein lautes Krachen verschluckte Menachem ben Jehudas Antwort. Entsetzt schaute Rebekka die enge Kellerstiege hinauf. »Sind sie schon im Haus?«
»Nein, Kind, aber sie versuchen, die Tür aufzubrechen. Los jetzt, spute dich!« Er küsste sie auf die Stirn.
Rebekka umarmte ihre Mutter ein letztes Mal, Tränen brannten in ihren Augen. »In Prag sehen wir uns wieder.«
»Ja, in Prag.« Esther lächelte und streichelte ihr über das Haar. »Lebe wohl, mein Kind. Ich liebe dich!«
Mit zitternden Fingern griff Rebekka nach ihrem Bündel und kletterte in das Loch. Sie drehte sich nicht noch einmal um, der Anblick ihrer Eltern, wie sie dort auf der schmalen Steintreppe standen, die hinunter zur Mikwe führte, hätte ihr das Herz gebrochen. Ihre Eltern. Waren sie das überhaupt noch? Sie schob den bitteren Gedanken weg, jetzt musste sie den Weg durch diesen finsteren Kanal finden. Für Grübeleien würde später noch Zeit sein. Wenn sie in Sicherheit war. In Prag.
Langsam stolperte Rebekka vorwärts. Der Gang war niedrig und eng, nach ein paar Schritten musste sie in die Hocke gehen und wie eine Ente durch den Wasserlauf watscheln. Es war stockfinster, sie sah nicht, wohin sie trat. Ein paarmal stieß sie mit dem Fuß gegen einen Stein, doch zum Glück waren ihre Reisestiefel so robust, dass sie sich nicht verletzte. In der Finsternis des Tunnels gab es nur ein einziges Geräusch: das Platschen des Wassers, das unheimlich laut von den grob gehauenen Wänden widerhallte. Es dauerte nicht lange, da hatte Rebekka jedes Gefühl für die Zeit verloren. War sie noch immer unter dem Judenviertel? Hatte sie den Ausstieg zu dem Brunnen verpasst? Gab es diesen Ausstieg überhaupt? Was, wenn sie auf eine Stelle stieß, die zu eng war, um sie zu passieren? Bei diesem Gedanken flutete Panik durch ihren Körper. Der Zulauf, der die Mikwe mit frischem Wasser versorgte, war nicht als Fluchttunnel gebaut worden. Ihr Vater hatte lediglich einen der Alten davon sprechen hören, dass er so geräumig sei, dass man hindurchkriechen könne, wenn man von zierlicher Statur war. Vor ihr hatte es noch nie jemand versucht.
Rebekka schluckte die Beklemmung hinunter und krabbelte weiter. Der Saum ihres Kleides und auch der ihres schweren Lodenmantels waren klatschnass. Wie gut, dass Mutter das wichtige Dokument erst in Wachstuch geschlagen und dann in den Saum eingenäht hatte. Den Beutel mit ihren wenigen Habseligkeiten hatte Rebekka bisher so hoch halten können, dass er weitgehend von der Nässe verschont geblieben war. Sie dachte an die Dinge in dem Beutel, vor allem die beiden Gegenstände, auf die sie nur einen kurzen Blick hatte werfen können. Das alles musste ein Irrtum sein, ein böser Traum! Unwillkürlich fasste sie sich an den Hals. Es war kein böser Traum, da hing es, das silberne Kettchen, das ihr ganzes bisheriges Leben infrage stellte.
Mit einem Mal durchdrang ein schwacher Schimmer die Dunkelheit. Das musste der Ausstieg sein! Rebekka krabbelte schneller, froh, dass sie den finsteren Tunnel bald verlassen konnte.
Doch nur wenige Fuß später gelangte sie an eine Stelle, an der sich der Gang so verengte, dass nicht einmal ein Kind hindurchgepasst hätte. Nein! Musste sie etwa zurückkriechen? Zurück in das Judenviertel, wo die Häscher schon auf sie warteten? Oder noch schlimmer: hier unten stecken bleiben, bis sie vor Kälte
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