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Die Revolte des Koerpers

Die Revolte des Koerpers

Titel: Die Revolte des Koerpers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Miller
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solche Einstellung zum Leben nicht für lobenswert und nicht für eine Tugend.
    Was die schwere körperliche Krankheit verursachte, war die Verpflichtung zur totalen Dankbarkeit und die Unmöglichkeit, der mütterlichen Kontrolle und Einengung Widerstand zu leisten. Es war die verinnerlichte Moral, die Marcel Proust zur Unterdrückung der Revolte zwang.Hätte er in seinem eigenen Namen jemals so mit seiner Mutter reden können, wie er seinen Helden Jean Santeuil hatte reden lassen, dann hätte er kein Asthma entwickelt, hätte nicht an Erstickungsanfällen gelitten, nicht sein halbes Leben im Bett verbringen müssen und wäre nicht so früh gestorben. Er schreibt ja so deutlich im Brief an seine Mutter, daß er lieber krank sei als das Risiko ihres Mißfallens auf sich zu nehmen. Äußerungen dieser Art sind auch heute nicht selten, man muß sich nur vergegenwärtigen, welche Konsequenzen diese emotionale Blindheit hat.

I.7  Der große Meister
der Abspaltung der Gefühle
– James Joyce
     
    James Joyce mußte sich in Zürich fünfzehn Augenoperationen unterziehen. Was durfte er wohl nicht sehen und nicht fühlen? Nach dem Tode seines Vaters schrieb er in einem Brief vom 17. Januar 1932 an Harriet Shaw Weaver folgendes:
     
    »Mein Vater hatte eine außergewöhnlich große Zuneigung zu mir. Er war der albernste Mensch, den ich je gekannt habe, und doch von beißender Schläue. Er hat bis zum letzten Atemzug an mich gedacht, und von mir gesprochen. Ich habe ihn immer sehr gern gemocht, da ich selbst ein Sünder bin, und sogar seine Fehler geliebt. Hunderte von Seiten und Dutzende von Personen in meinen Büchern verdanke ich ihm. Über seinen trockenen (oder eher feuchten) Witz und den Ausdruck seines Gesichts habe ich mich oft gebogen vor Lachen« (Joyce 1975, S. 223).
     
    Im Gegensatz zu dieser idealisierten Darstellung des Vaters steht James Joyces Brief an seine Frau vom 29. August 1904, nach dem Tod seiner Mutter:
     
    »Wie sollte mir der Gedanke ans Elternhaus Freude machen? ... Meine Mutter wurde, wie ich glaube, durch die Mißhandlung von meinem Vater, durch Jahre derSorgen und durch die zynische Offenheit meines Betragens langsam umgebracht. Als sie im Sarg lag, und ich ihr Gesicht sah – ein Gesicht, grau und vom Krebs zerstört – begriff ich, daß ich auf das Gesicht eines Opfers sah, und ich verfluchte das System, das sie zu einem Opfer gemacht hatte [das System, nicht den idealisierten Vater! AM]. Wir waren siebzehn in der Familie. Meine Brüder und Schwestern bedeuten mir nichts. Nur einer meiner Brüder ist fähig, mich zu verstehen« (vgl. ebd., S. 56).
     
    Wieviel Leiden des ersten Sohnes dieser Mutter von siebzehn Kindern und eines gewalttätigen Trinkers verbirgt sich hinter diesen sachlich geschriebenen Sätzen? Dieses Leiden findet sich nicht in Joyces Werken ausgedrückt, statt dessen trifft man auf dessen Abwehr mit Hilfe brillanter Provokationen. Die Possen des Vaters wurden vom häufig geschlagenen Kind bewundert und vom Erwachsenen zu Literatur verarbeitet. Den großen Erfolg seiner Romane führe ich auch auf die Tatsache zurück, daß sehr viele Menschen gerade diese Form von Gefühlsabwehr in der Literatur wie auch im Leben besonders schätzen. Ich habe mich in Evas Erwachen mit diesem Phänomen anläßlich Frank McCourts autobiographischem Roman Die Asche meiner Mutter beschäftigt.

Nachwort zum ersten Teil
     
    Es dürfte unzählige andere Menschen geben, deren Schicksal ähnlich verlaufen ist. Doch die hier erwähnten Autoren sind weltbekannt, und so kann der Wahrheitsgehalt meiner Worte mit Hilfe ihrer Werke und der Biographien über sie überprüft werden. Diesen Schriftstellern war gemeinsam, daß sie dem Vierten Gebot treu geblieben sind und ihre Eltern, die ihnen schweres Leid zugefügt hatten, ihr ganzes Leben ehrten. Sie haben ihre eigenen Bedürfnisse nach Wahrheit, Treue zu sich selbst, nach aufrichtiger Kommunikation, nach Verstehen und Verstanden-Werden auf dem Altar ihrer Eltern geopfert, all das in der Hoffnung, geliebt und nicht länger zurückgewiesen zu werden. Die in ihren Werken ausgedrückte Wahrheit war abgespalten. Das hielt sie unter dem Gewicht des Vierten Gebotes im Gefängnis der Verleugnung.
    Diese Verleugnung führte zu schweren Erkrankungen und zum frühzeitigen Tod, was immer aufs neue beweist, daß Moses sich gründlich irrte, als er übermittelte, man lebe länger, wenn man die Eltern ehre. Zumindest die hier dargestellten Fälle widersprechen

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