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Die Revolte des Koerpers

Die Revolte des Koerpers

Titel: Die Revolte des Koerpers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Miller
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dieser Drohung. Sicher leben viele Menschen auch dann lange, wenn sie ihre Eltern, von denen sie einst mißhandelt wurden, ihr ganzes Leben lang idealisieren. Allerdings wissen wir nicht, wie sie mit ihrer Unwahrheit fertig wurden. Die meisten haben sie unbewußt der nächsten Generation weitergegeben. Hingegen wissen wir, daß die hier genannten Schriftsteller ihre Wahrheit zu ahnen begannen. Doch in ihrerIsolierung und in einer Gesellschaft, die stets die Partei der Eltern ergreift, konnten sie nicht den Mut finden, ihre Verleugnung aufzugeben.
    Wie stark der Druck der Gesellschaft wirkt, kann jeder selbst feststellen. Wenn jemand die Grausamkeit seiner Mutter als Erwachsener erkennt und darüber offen spricht, wird er von allen Seiten, auch in Therapien, hören: ›Aber sie hatte es auch schwer, sie hat das und das für dich getan. Du solltest sie nicht verurteilen, nicht schwarz-weiß malen, sie nicht einseitig sehen. Es gibt keine idealen Eltern‹ usw. Man hat den Eindruck, daß diejenigen, die so argumentieren, ihre eigenen Mütter verteidigen, dabei hat der Betreffende sie gar nicht angegriffen. Er hat ja nur über seine eigene Mutter gesprochen. Dieser Druck der Gesellschaft ist viel stärker, als man sich vorstellt, und daher hoffe ich, daß meine Darstellung der Schriftsteller nicht als eine Verurteilung verstanden wird, als eine Kritik an ihrem mangelnden Mut, sondern als Tragik von Menschen, die die Wahrheit wohl spürten, sie aber in der Isolation nicht zulassen konnten. In der Hoffnung, diese Isolation zu verringern, schreibe ich dieses Buch. Denn wir begegnen der Einsamkeit des Kindes, das der heutige Erwachsene einst gewesen ist, nicht selten in Therapien, weil diese ebenfalls unter dem Diktat des Vierten Gebotes durchgeführt werden.

II. Die traditionelle Moral
in den Therapien und das Wissen
des Körpers
     
     
    »Ohne Erinnerungen an die Kindheit zu sein,
das ist, als wärst du verurteilt, ständig eine Kiste
mit dir herumzuschleppen, deren Inhalt
du nicht kennst. Und je älter du wirst, um so
schwerer kommt sie dir vor, und
um so ungeduldiger wirst du, das Ding
endlich zu öffnen.«
     
    Jurek Becker *
     
     
     
     
    * Jurek Becker war als kleines Kind in den Lagern Ravensbrück und Sachsenhausen interniert, an die er keine einzige Erinnerung behielt. Sein ganzes Leben suchte er den kleinen Jungen, der die extreme Grausamkeit der Lager dank der Fürsorge seiner Mutter überlebt hat.

Einleitung zum zweiten Teil
     
    Die im ersten Teil beschriebenen Schicksale der Schriftsteller gehören noch in die vergangenen Jahrhunderte. Was hat sich seitdem geändert? Eigentlich nicht viel, außer daß heute manche der ehemaligen Opfer von körperlichen oder auch »nur« seelischen Mißhandlungen Therapien aufsuchen, um sich von den Folgen der frühesten Verletzungen zu befreien. Aber so wie sie selbst scheuen sich auch ihre Therapeuten oft, die volle Wahrheit über die Kindheit zu sehen. Daher kommt es nur in sehr seltenen Fällen zur Befreiung. Allenfalls dürfte eine kurzfristige Besserung der Symptome eintreten, wenn dem Klienten das Erlebnis seiner Emotionen ermöglicht wird. Er kann sie fühlen, sie in Gegenwart eines anderen ausdrücken, etwas, das er früher nie durfte. Doch solange der Therapeut selbst im Dienst irgendwelcher Götter (Elternfiguren) steht, heißen sie Jahwe, Allah, Jesus, Kommunistische Partei, Freud, Jung etc., kann er dem Klienten kaum auf dessen Weg zur Autonomie beistehen. Die Moral des Vierten Gebotes hält häufig beide weiter in ihrem Bann, und der Körper des Klienten zahlt den Preis für dieses Opfer.
    Wenn ich heute behaupte, daß diese Opferung nicht nötig wäre und daß man sich vom Diktat der Moral und des Vierten Gebotes befreien könnte, ohne sich dafür bestrafen zu müssen und ohne andere damit zu schädigen, dann könnte es sein, daß man mir naiven Optimismus vorwirft. Denn wie kann ich einem Menschen, der sich sein ganzesLeben an die Zwänge hielt, die einmal zu seinem Überleben notwendig waren, und der sich nun ein Leben ohne diese Zwänge gar nicht mehr vorzustellen vermag, beweisen, daß er von ihnen frei werden kann? Wenn ich sage, daß es mir dank der Entschlüsselung meiner Geschichte gelungen ist, diese Freiheit zu erlangen, muß ich zugeben, daß ich kein gutes Beispiel bin, denn es dauerte bei mir mehr als vierzig Jahre, bis ich dahin gekommen bin, wo ich jetzt stehe. Doch ich kenne Menschen, denen es in sehr viel kürzerer Zeit gelungen ist, ihre

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