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Die Revolte des Koerpers

Die Revolte des Koerpers

Titel: Die Revolte des Koerpers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Miller
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Wesensart, seiner Verschwendungssucht, seiner Trägheit, der Unmöglichkeit für ihn, sich eine Stelle im Leben zu verschaffen« und von »der Vergeudung seiner Verstandesgaben« (Proust 1992, S. 1051).
     
    Im gleichen Roman zeigt er noch seine Auflehnung der Mutter gegenüber, aber immer nur unter dem Namen seines Helden Jean:
     
    »Da vermehrte sein Zorn auf sich selbst noch den gegen seine Eltern. Da sie aber die Ursache seiner Angst, dieser grausamen Untätigkeit, seines Schluchzens, seiner Migräne, seiner Schlaflosigkeit waren, hätte er ihnen gern etwas Böses zugefügt oder noch lieber gewollt, er könnte, wenn seine Mutter hereinkäme, ihr, anstatt sie mit Schmähungen zu empfangen, erklären, er verzichte auf jede Arbeit, er werde alle Nächte anderswo schlafen, er halte seinen Vater für dumm ... und das alles nur, weil er das Bedürfnis hatte, um sich zu schlagen und ihr mit Worten, die wie Hiebe trafen, etwas von dem Bösen zurückzugeben, das sie ihm zugefügt hatte. Diese Worte aber, die er nicht aussprechen konnte, blieben in ihm stecken und wirkten wie ein Gift, das man nicht ausscheiden kann und das einem alle Glieder verseucht; seine Füße, seine Hände zitterten und verkrampften sich im Leeren, sie suchten nach einer Beute« (ebd., S. 362).
     
    Nach dem Tod der Mutter hingegen wird nichts als Liebe geäußert. Wo ist eigentlich das wahre Leben mit seinen Zweifeln und seinen starken Gefühlen verblieben? Alleswurde in Kunst umgewandelt, und diese Flucht vor der Realität wurde mit dem Asthma bezahlt. In einem Brief vom 9. März 1903 schreibt Marcel an seine Mutter: »Aber ich erhebe keinen Anspruch auf Freude. Seit langem habe ich darauf verzichtet« (Proust 1970, S. 109). Und im Dezember 1903: »Doch wenigstens beschwöre ich die Nacht mit dem Plan eines Lebens nach Deinem Willen ...« (ebd., S. 122), und weiter unten in diesem Brief: »Denn lieber will ich Anfälle haben und Dir gefallen, als Dir mißfallen und keine haben« (ebd., S. 123). Sehr bezeichnend für den Konflikt zwischen dem Körper und der Moral ist das Zitat aus einem Brief Prousts von Anfang Dezember 1902:
     
    »Die Wahrheit ist, daß Du, sobald ich mich wohlbefinde, alles zerstörst, bis es mir abermals schlecht geht, weil das Leben, das mir Besserung verschafft, Dich aufreizt. ... Aber es ist betrüblich, daß ich nicht gleichzeitig Deine Zuneigung und meine Gesundheit haben kann« (ebd., S. 105).
     
    Prousts berühmt gewordene Erinnerung an die im Tee eingetauchte Madeleine, ein französisches Gebäck, erzählt eigentlich von einem seltenen glücklichen Moment, in dem er sich bei der Mutter geborgen und in Sicherheit fühlte. Er kam einmal als elfjähriger Junge durchfroren und durchnäßt von einem Spaziergang, wurde von der Mutter umarmt und bekam heißen Tee mit einer Madeleine. Ohne Vorwürfe. Das genügte offenbar, um dem Kind für eine Weile die Todesängste zu nehmen, die in ihm vermutlich seit der Geburt schlummerten und die mit der Unsicherheit über sein Erwünschtsein zusammenhingen.Durch die häufigen Maßregelungen und kritischen Äußerungen seiner Eltern wurden diese latenten Ängste ständig von neuem geweckt. Das kluge Kind mochte gedacht haben: ›Mama, ich bin dir eine Last, du möchtest mich anders haben, das zeigst du mir ja so oft und sagst es auch immer wieder.‹ Als Kind konnte Marcel das nicht in Worten ausdrücken, und die Ursachen seiner Ängste blieben allen verborgen. Er lag allein im Zimmer, wartete auf einen Liebesbeweis der Mutter und die Erklärung, warum sie ihn anders wollte, als er war. Diese Tatsache tat weh. Der Schmerz war offenbar zu groß, um gefühlt werden zu können, die Forschungen und Fragen wurden zu Literatur erklärt und ins Reich der Kunst verbannt. Es blieb Marcel Proust versagt, das Rätsel seines Lebens zu entziffern. Ich denke, daß »die verlorene Zeit« sein nicht gelebtes Leben war.
    Dabei war Prousts Mutter nicht einmal schlechter oder besser als der Durchschnitt der damaligen Mütter, und sie war zweifellos auf ihre Weise besorgt um das Wohlbefinden ihres Sohnes. Nur kann ich mich dem Chor der Biographen nicht anschließen, die ihre mütterlichen Qualitäten überaus loben, weil ich mich nicht mit ihrem Wertesystem identifiziere. Einer von ihnen schreibt zum Beispiel, daß die Mutter dem Sohn ein Vorbild in der Tugend der Selbstopferung war. Vermutlich stimmt es, daß Proust schon bei seiner Mutter lernte, die eigene Freude nicht zu genießen, nur halte ich eine

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