Die Revolte des Koerpers
Erwartungen werden nicht mit dem Älterwerden aufgegeben, ganz im Gegenteil. Sie werden nur auf andere, hauptsächlich auf die eigenen Kinder und Enkelkinder übertragen. Es sei denn, wir werden uns dieser Mechanismen bewußt und versuchen, durch die Aufhebung der Verdrängung und Verleugnung die Realität unserer Kindheit so genau wie möglich zu erkennen. Dann schaffen wir in unserem Selbst den Menschen, deruns die Bedürfnisse befriedigen kann, die seit unserer Geburt oder noch früher auf ihre Erfüllung warten. Nun können wir uns die Beachtung, den Respekt, das Verständnis für unsere Emotionen, den nötigen Schutz, die bedingungslose Liebe, die uns die Eltern verweigert haben, selber geben.
Damit dies geschehen kann, brauchen wir die Erfahrung der Liebe für das Kind, das wir waren, sonst wissen wir nicht, worin sie besteht. Wenn wir das in den Therapien lernen wollen, brauchen wir Menschen, die uns so annehmen können, wie wir sind, uns den Schutz, Respekt, die Sympathie und Begleitung geben können, die uns helfen zu verstehen, wie wir so geworden sind, wie wir sind. Diese Grunderfahrung ist unentbehrlich, damit wir die Elternrolle für das einst mißachtete Kind in uns übernehmen können. Ein Erzieher, der etwas mit uns vorhat, kann uns diese Erfahrung nicht vermitteln, ebensowenig ein Psychoanalytiker, der gelernt hat, daß man angesichts der Kindheitstraumen neutral bleiben und die Berichte der Analysanden als Phantasien deuten solle. Nein, wir brauchen genau das Gegenteil, nämlich einen parteiischen Begleiter, der mit uns das Entsetzen und die Empörung teilen kann, wenn unsere Emotionen ihm und uns Schritt für Schritt aufdecken, wie das kleine Kind gelitten hat und was es durchmachen mußte, ganz allein, als seine Seele und sein Körper um das Leben kämpften, das Leben, das sich jahrelang in ständiger Gefahr befand. Einen solchen Begleiter, den ich einen Wissenden Zeugen nenne, brauchen wir, um von nun an selbst dem Kind in uns beizustehen, das heißt seine Körpersprache zu verstehen und auf seine Bedürfnisse einzugehen, anstatt sie, wie bisher, zu ignorieren, in der gleichen Art, wie es die Eltern einst taten.Was ich hier beschreibe, ist durchaus realistisch. Man kann in einer guten, parteiischen und nicht neutralen Begleitung seine Wahrheit finden. Man kann in diesem Prozeß seine Symptome verlieren, sich von der Depression befreien und Freude am Leben gewinnen, man kann aus dem Zustand der Erschöpfung herauskommen und einen Zuwachs an Energie erhalten, sobald diese nicht mehr für die Verdrängung der eigenen Wahrheit benötigt wird. Die für die Depression bezeichnende Müdigkeit meldet sich nämlich jedesmal, wenn wir unsere starken Emotionen unterdrücken, wenn wir die Erinnerungen des Körpers bagatellisieren und sie nicht beachten wollen. Weshalb sind solche positiven Entwicklungen eher selten? Warum glauben die meisten Menschen, Fachleute inbegriffen, viel lieber an die Macht der Medikamente, als daß sie sich der Führung des Körpers anvertrauen? Er weiß ja genau, was wir vermissen, was wir brauchen, was wir schlecht vertrugen, worauf wir allergisch reagierten. Aber viele Menschen suchen lieber die Hilfe bei Medikamenten, Drogen oder Alkohol, wodurch ihnen der Weg zur Wahrheit noch mehr versperrt wird. Weshalb? Weil die Erkenntnis der Wahrheit schmerzhaft ist? Das ist nicht zu bestreiten. Aber diese Schmerzen sind vorübergehend, und sie sind in einer guten Begleitung zu ertragen. Das Problem sehe ich hier im Mangel dieser Begleitung, weil sehr viele Vertreter der helfenden Berufe durch unsere Moral stark daran gehindert zu sein scheinen, den einst mißhandelten Kindern beizustehen und die Folgen der früh erlittenen Verletzungen zu erkennen. Sie stehen unter der Macht des Vierten Gebotes, das uns vorschreibt, unsere Eltern zu ehren, »damit es uns gut ergehe und wir länger leben können«.
Daß dieses Gebot das Ausheilen von frühen Verletzungenverhindert, ist naheliegend. Daß diese Tatsache bisher nie in der Öffentlichkeit reflektiert wurde, ist nicht erstaunlich. Die Reichweite und Macht dieses Gebotes sind unermeßlich, weil es von der natürlichen Bindung des kleinen Kindes an seine Eltern genährt wird. Auch die größten Philosophen und Schriftsteller wagten es nie, dieses Gebot anzugreifen. Trotz seiner scharfen Kritik an der christlichen Moral blieb Nietzsches Familie von seiner Kritik verschont, denn in jedem einst mißhandelten Erwachsenen schlummert die Angst des
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