Die Revolte des Koerpers
berühmt gewordenen Roman eines Schicksalslosen von seiner Ankunft im Konzentrationslager Auschwitz. Er war damals noch ein Junge von fünfzehn Jahren, und er beschreibt sehr genau, wie er alles Abstruse und Grausame, das ihm dort bei der Ankunft begegnet ist, als etwas Positives und für ihn Günstiges zu deuten versuchte, weil er sonst an seiner Todesangst zugrunde gegangen wäre.Vermutlich muß jedes mißhandelte Kind eine solche Haltung annehmen, um zu überleben. Es deutet seine Wahrnehmungen um und versucht auch da Wohltaten zu erblicken, wo ein Außenstehender ein offensichtliches Verbrechen feststellen würde. Ein Kind hat keine Wahl, es muß verdrängen, wenn es keine Helfenden Zeugen hat und den Verfolgern total ausgeliefert ist. Erst später, als Erwachsene, wenn diese Menschen das Glück haben, Wissenden Zeugen zu begegnen, haben sie eine Wahl. Sie können ihre Wahrheit zulassen, aufhören, den Täter zu bemitleiden, zu verstehen und seine ungelebten abgespaltenen Gefühle für ihn fühlen zu wollen; sie können dessen Taten eindeutig verurteilen. Dieser Schritt beinhaltet eine große Erleichterung für den Körper. Nun muß er nicht den erwachsenen Teil mit Drohungen an die tragische Geschichte des Kindes erinnern, er fühlt sich von ihm verstanden, respektiert und geschützt, sobald der Erwachsene seine ganze Wahrheit kennen will.
Ich bezeichne die gewaltsame Art von »Erziehung« als Mißhandlung, weil dem Kind nicht nur seine Rechte auf Würde und Respekt für sein Menschsein verweigert werden, sondern auch eine Art totalitäres Regime aufgebaut wird, in dem es ihm unmöglich ist, die erfahrenen Demütigungen, Entwürdigungen und Mißachtungen überhaupt wahrzunehmen, geschweige denn, sich dagegen zu wehren. Diese Erziehungsmuster werden dann vom Erwachsenen weiter praktiziert, mit den Partnern und eigenen Kindern, am Arbeitsplatz und in der Politik, immer dort, wo die Angst des einst verunsicherten Kindes mit Hilfe der äußeren Machtstellung abgewehrt wird. Auf diese Weise entstehen Diktatoren und Menschenverachter, die als Kinder nie geachtet wurden und später den Respekt mit Hilfe der gigantischen Macht zu erzwingen versuchen.
Gerade in der Politik läßt sich beobachten, daß der Hunger nach Macht und Anerkennung nie aufhört, nie befriedigt werden kann. Je mehr Macht solche Menschen besitzen, desto mehr werden sie zu Aktionen getrieben, die schließlich im Wiederholungszwang die alte Ohnmacht wiederherstellen, der sie ja entfliehen wollten: so Hitler im Bunker, so Stalin in seiner paranoiden Angst, so Mao in der späteren Ablehnung durch sein Volk, so Napoleon in der Verbannung, so Milosevic im Gefängnis und so der eitle, gerne prahlende Saddam Hussein in seinem Erdloch. Was hat diese Männer dazu getrieben, die von ihnen errungene Macht so zu mißbrauchen, daß sie schließlich in Ohnmacht umschlug? Ich meine, daß es ihr Körper war, der die ganze Ohnmacht ihrer Kindheit genau kannte, weil er sie in seinen Zellen gespeichert hatte und sie dazu bewegen wollte, sich diesem Wissen zu stellen. Die Wirklichkeit ihrer Kindheit machte aber all diesen Diktatoren so viel Angst, daß sie lieber ganze Völker zerstörten, Millionen von Menschen umbringen ließen, als ihre Wahrheit zu fühlen.
In diesem Buch werde ich die Motive der Diktatoren nicht weiter verfolgen, obwohl ich das Studium ihrer Biographien überaus erhellend finde. Hier werde ich mich auf Menschen konzentrieren, die zwar ebenfalls durch die Schwarze Pädagogik erzogen wurden, aber nicht das Bedürfnis verspürten, unendliche Macht zu erringen. Im Unterschied zu diesen Gewaltherrschern haben sie die durch die Schwarze Pädagogik unterdrückten Gefühle der Wut und Empörung nicht gegen andere gerichtet, sondern verhielten sich destruktiv gegen sich selbst. Sie wurden krank, litten an verschiedenen Symptomen bzw. starben sehr früh. Die begabtesten dieser Menschen wurden zu Schriftstellern oder bildenden Künstlern, sie konntenzwar die Wahrheit in der Literatur und Kunst zeigen, aber immer nur in der Abspaltung von ihrem eigenen Leben, und diese Abspaltung bezahlten sie mit Erkrankungen. Im ersten Teil habe ich Beispiele solcher tragischen Biographien aufgeführt.
Ein Forschungsteam in San Diego hat 17000 Menschen im Durchschnittsalter von siebenundfünfzig Jahren befragt, wie ihre Kindheit gewesen war und welche Krankheiten sie in ihrem Leben zu verzeichnen hatten. Es hat sich herausgestellt, daß die Zahl der schweren
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