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Die Revolte des Koerpers

Die Revolte des Koerpers

Titel: Die Revolte des Koerpers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Miller
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ich wußte gar nicht wie. Erst jetzt kann ich das realisieren.
    Auf der anderen Seite tut sie mir leid, denn auch sie hungert nach Beziehungen. Aber sie kann es noch viel weniger merken und zeigen als ich. Sie ist wie eingesperrt, und in diesem Eingesperrtsein muß sie sich so hilflos vorkommen, daß sie ständig ihre Macht wiederherstellen muß, besonders mir gegenüber.
    Schon wieder versuche ich sie zu verstehen. Wann werde ich mich endlich davon befreien? Wann werde ich endlich aufhören, die Psychologin meiner Mutter zu sein? Ich suche sie, ich will sie verstehen, ich will ihr helfen. Aber alles ist nutzlos. Sie will sich nicht helfen lassen, sie will sich nicht aufweichen lassen, sie scheint nur Macht zu brauchen. Und auf dieses Spiel lasse ich mich nicht mehr ein. Ich hoffe, daß es mir gelingt.
    Mit Papa ist es anders. Er regiert durch seine Abwesenheit, er weicht allem aus, macht jede Begegnung unmöglich. Auch damals, als ich so klein war und er mit meinem Körper spielte, hat er nie etwas gesagt. Mutti ist anders. Sie ist allgegenwärtig, sei es im Schimpfen und Vorwürfe machen, sei es in ihrer Bedürftigkeit und ihren Klagen. Ich kann mich ihrer Gegenwart nie entziehen, aber ich kann diese Gegenwart nicht als Nahrung brauchen. Sie zerstört mich. Aber auch Papas Abwesenheit war zerstörerisch für mich, weil ich doch als Kind unbedingt Nahrung brauchte. Wo sollte ich sie suchen, wenn meine Eltern sie mir verweigern? Die Nahrung, die ich so dringend brauchte, wäre eine Beziehung gewesen, aber weder Mutti noch Papa wußten, was das sei, und fürchteten eine Bindung zu mir, weil sie selber als Kinder mißbraucht und nicht beschützt wurden. Nun schlage ich wieder in die gleiche Kerbe: Jetzt versuche ich Papa zu verstehen. Sechzehn Jahre lang tat ich das ununterbrochen, und jetzt will ich endlich davon loskommen. Wie auch immer Papa unter Einsamkeit gelitten hat, Tatsache ist, daß er mich in dieser Einsamkeit aufwachsen ließ, mich als Kind nur dannholte, wenn er mich gebraucht hat, aber nie für mich da war. Und später wich er mir immer aus. An diese Tatsachen will ich mich halten. Ich will der Realität nicht länger ausweichen.
     
    9. April 1998
    Ich habe wieder stark abgenommen, und der Psychiater aus der Klinik gab uns die Adresse einer Therapeutin. Sie heißt Susan. Nun habe ich zweimal mit ihr gesprochen. Bis jetzt geht es gut. Sie ist anders als der Psychiater. Ich fühle mich bei ihr verstanden, und das ist eine große Erleichterung. Sie versucht nicht, mir etwas einzureden, sie hört zu, aber redet auch, sagt, was sie denkt, und macht mir Mut, meine Gedanken auszusprechen und meinen Gefühlen zu vertrauen. Ich habe ihr von Nina erzählt und habe viel geweint. Essen mag ich immer noch nicht, aber dafür verstehe ich nun besser und tiefer, warum das so ist. Man hat mich sechzehn Jahre lang mit einer falschen Nahrung gefuttert, und ich habe genug davon. Entweder werde ich mir die richtige Nahrung verschaffen und mit Hilfe von Susan den Mut dazu finden, oder ich werde meinen Hungerstreik fortsetzen. Ist das ein Hungerstreik? Ich kann es nicht so sehen. Ich habe einfach keine Lust zu essen, keinen Appetit. Ich mag die Lügen nicht, ich mag die Verstellung nicht, ich mag das Ausweichen nicht. Ich möchte so gern mit meinen Eltern reden können, ihnen von mir erzählen und von ihnen hören, wie es ihnen als Kinder ergangen ist, wie sie heute die Welt empfinden. Nie haben sie darüber gesprochen. Dauernd haben sie versucht, mir gute Manieren beizubringen, und wichen allem aus, was persönlich war. Jetzt habe ich die Nase voll davon. Aber warum gehe ich nicht einfach fort? Warumkomme ich immer wieder nach Hause und leide darunter, wie sie mit mir umgehen? Weil sie mir leid tun? Das auch, aber ich muß gestehen, daß ich sie immer noch brauche, daß ich sie immer noch vermisse, obwohl ich weiß, daß sie mir nie das geben können, was ich von ihnen möchte. Das heißt, mein Verstand weiß es, aber das Kind in mir kann das nicht verstehen, kann das nicht wissen. Es will auch nicht wissen, es will einfach, daß man es lieb hat, und kann nicht begreifen, daß es von Anfang an keine Liebe bekommen hat. Werde ich das jemals akzeptieren können?
    Susan meint, ich werde lernen können, es zu akzeptieren. Zum Glück sagt sie nicht, daß ich mich in meinen Gefühlen täusche. Sie ermutigt mich, meine Wahrnehmungen ernst zu nehmen und ihnen zu glauben. Das ist ganz herrlich, das habe ich noch nie in diesem Maße

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