Das Paradies des August Engelhardt
Noch bevor das Kanu den Strand erreicht hatte, sprang er hinaus ins knietiefe Meer, ließ sich fallen, planschte durchs Wasser, robbte an den Strand, bohrte die Finger in den weißen Sand, rieb die Stirn hinein, rollte auf den Rücken und sah in den Himmel. Die Sonne stand hoch und nichts warf Schatten. Weiß der Sand, türkis das Meer, der Himmel azurblau, ein paar Hundert Schritte weiter landeinwärts der Palmenwald, dunkel und erfüllt von Geräuschen, die er noch nicht kannte: ein Gurren, ähnlich dem von Tauben, ein gleichmäßiges Tocken, ein trockenes Rauschen, als ein Wind die Palmwedel durchkämmte. Die Wolken am Horizont waren weiß und fern und keine Bedrohung, überhaupt war ihm alles fern, sodass nichts aus der Welt des Winters ihm hier etwas anhaben konnte. Kabakon.
Der Name seiner Insel, Kabakon, er sagte ihn immer wieder, sang ihn, tanzte ihn, während das Licht der Tropen warm um ihn floss. Er wusste nicht, was der Name bedeutete, aber Kabakon, das war das Meer ringsum, das warm war und freundlich, fast weiß, wo es an den Strand spülte, dahinter von einem leichten Hellgrün, weiter draußen lichtblau und jenseits des Atolls von der Farbe des Himmels, unendlich tief und fast schon erschreckend. Kabakon war der weiße Sand, warm und lockend, die Muscheln darin und der rote Krebs, nicht größer als ein Daumennagel, der seitwärts davonkrabbelte, als er die Zehen in den Sand bohrte. Kabakon waren die Palmen, die ihn ernähren würden. Von heute an war Kabakon seine Welt und keine andere würde es mehr für ihn geben.
Engelhardt öffnete den Stoffgürtel und ließ das Wollkleid fallen. Darunter trug er nichts. Nackt stand er, hob die Arme zur Sonne, den sehnigen Körper aufgerichtet, schloss die Augen und hörte das Lied seiner Insel, das dumpfe Dröhnen der brechenden Wellen, eigentlich kein Dröhnen, das war nur der erste Eindruck, sondern ein auf- und abschwellender Chor in großer Besetzung, mal drängten sich die Tenöre in den Vordergrund, mal die Altstimmen, während der Sopran ein kaum wahrnehmbares zweigestrichenes A sang, der große Choral seiner Insel, das Kabakon-Lied. Er stand und versuchte, die Sonne zu trinken, aber das funktionierte nicht wirklich. Später wird er das lernen, hier in der Kolonie Deutsch-Neuguinea, wochenlang wird er üben, sich nur von ihren Strahlen zu nähren. Er schloss die Augen. Unter den Lidern flimmerte es rot.
Als er müde wurde, ließ er sich in den Sand sinken und spürte das leichte Atmen der Insel, die Korallen gebaut hatten, lebende Wesen, und immer noch bauten, und er dankte ihnen dafür. Nie im Leben war er so glücklich gewesen. Er spürte, wie sein Herz langsamer schlug. Kein Grund mehr, sich zu beeilen. Kein Ziel. Kein Kampf ums Dasein. Keine Zukunft. Kein Plan. Kein Fortschritt. Kein Erfolg. Kabakon war seine ewige Gegenwart.
Als er Durst bekam, zog er das Kanu aus dem Wasser, holte sein Beil aus dem Seesack, fuhr mit dem Daumen über die Klinge, nickte zufrieden und sah prüfend zu der Gruppe von Palmen, die direkt am Ufer wuchsen, die fasrigen Wurzeln teilweise schon freigelegt von den Wellen. In jeder Krone hingen ein paar Dutzend Nüsse, allerdings mindestens zwanzig Meter über dem Boden. Der Baum aus der Offenbarung des Johannes, auf beiden Seiten des Stromes stund der Baum des Lebens. Er trug Früchte in zwölferlei Reifestadien und lieferte jeden Monat eine Ernte, allerdings musste er da erst einmal drankommen. Die Nuss in der angefaulten Schale, die halb im Sand vergraben war, ignorierte er, nur die unreifen Nüsse waren genießbar, das hatte er in Indien gelernt. Er hatte in Bombay zwei Halbwüchsige bei der Ernte beobachtet. Sie hatten ein gedrehtes Tuch an die Unterschenkel gebunden und waren in ein paar Sekunden den Stamm weniger nach oben geklettert als senkrecht hinaufgekrochen, während ein uralter Fakir ihm beibrachte, den Körper zu verrenken. Engelhardt hatte sich beugen lassen, saß verdreht, machte das Kuhmaul, den Krieger, den Helden, die Schlange und stand schließlich auf dem Kopf. Look at the world from different positions, hatte der Fakir gesagt und war verschwunden, als Engelhardt die Beine wieder zu Boden sinken ließ, überrascht über die Klarheit in seinem Blick.
Er wusste, die Ernte der Nüsse würde schwierig, aber wenn er hier scheiterte, könnte er gleich wieder umkehren und zurück in die Heimat, die im Grunde genommen gar keine Heimat war, dieses Reich des Winters und der Kälte, diese fürchterliche Eiswelt,
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