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Die Revolte des Koerpers

Die Revolte des Koerpers

Titel: Die Revolte des Koerpers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Miller
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Nicht ohne Widerstände, aber mit Hilfe von Tante Anna ist es durchgegangen. Zuerst war ich ganz glücklich, endlich meine Ruhe zu haben, nicht mehr von Mutti ständig kontrolliert zu werden, selber meinen Tag einteilen zu können. Ich war richtig glücklich, doch das dauerte nicht lange. Plötzlich ertrug ich meine Einsamkeit nicht, die Gleichgültigkeit der Zimmervermieterin schien mir noch schlimmer als Muttis ständige Bevormundung. Ich sehnte mich so lange nach der Freiheit, und nun, als ich sie harte, machte sie mir angst. Der Zimmervermieterin, Frau Kort, ist es egal, ob ich esse, was und wann, und ich konnte es fast nicht ertragen, daß ihr das ganz gleichgültig zu sein schien. Ich machte mir dauernd Vorwürfe: Was will ich eigentlich? Du weißt ja selber nicht, was du willst. Wenn man sich für dein Eßverhalten interessiert, bist du unzufrieden, und wenn es einem gleichgültig ist, fehlt dir etwas. Es ist schwer, dir entgegenzukommen, weil du selber nicht weißt, was du willst.
    Nachdem ich eine halbe Stunde so mit mir geredet hatte, hörte ich plötzlich die Stimmen meiner Eltern, die mir noch in den Ohren klangen. Hatten sie recht, mußte ich mich fragen, stimmt es, daß ich nicht weiß, was ich will? Hier in diesem leeren Zimmer, wo niemand mich dabei störte, zu sagen, was ich mir wirklichsehnlichst wünsche, wo niemand mich unterbricht, kritisiert und verunsichert, wollte ich versuchen herauszufinden, was ich wirklich fühle und brauche. Doch ich fand erst keine Worte. Mein Hals war wie zugeschnürt, ich spürte meine Tränen aufsteigen, und ich konnte nur noch weinen. Erst als ich eine Weile geweint hatte, kam die Antwort wie von selber: Ich will doch nur, daß ihr mir zuhört, mich ernst nehmt, aufhört, mich ständig zu belehren, zu kritisieren, abzulehnen. Ich möchte mich bei euch so frei fühlen, wie ich mich mit Nina fühlte. Sie hat mir nie gesagt, ich wüßte nicht, was ich wolle. Und in ihrer Gegenwart wußte ich es auch. Aber eure Art, mich zu belehren, schüchtert mich ein, blockiert mein Wissen. Ich weiß dann nicht, wie ich es sagen soll, wie ich sein muß, damit ihr mit mir zufrieden seid, damit ihr mich lieben könnt. Aber sollte mir das Kunststück gelingen, wird das Liebe sein, die ich bekomme?
     
    14. Februar 1998
    Wenn ich im Fernsehen die Eltern sehe, die hemmungslos vor Glück schreien, weil ihr Kind eine Goldmedaille bei der Olympiade gewonnen hat, dann durchzieht mich ein Schauer, und ich denke, wen haben sie denn zwanzig Jahre lang geliebt? Den Jungen, der all seine Kraft in die Übungen setzte, um endlich diesen Moment zu erleben, daß die Eltern auf ihn stolz sind? Aber fühlt er sich damit von ihnen geliebt? Hätten sie diesen unsinnigen Ehrgeiz auch, wenn sie ihn wirklich geliebt hätten, und hätte er es nötig gehabt, eine Goldmedaille zu bekommen, wenn er der Liebe seiner Eltern sicher gewesen wäre? Wen liebten sie denn? Den Gewinner der Goldmedaille oder ihr Kind, das unter dem Mangel an Liebe vielleicht gelitten hat? Ich habe einen solchenGewinner am Bildschirm gesehen, und im Moment, als er von seinem Sieg erfuhr, brach er in Tränen aus, von denen er geschüttelt wurde. Es waren keine Glückstränen, man spürte das Leiden, das ihn schüttelte, nur er selber war sich dessen vermutlich nicht bewußt.
     
    5. März 1998
    Ich will nicht so sein, wie ihr mich wollt. Aber ich habe noch keinen Mut, so zu sein, wie ich möchte, weil ich immer noch unter eurer Ablehnung und meiner Vereinsamung bei euch leide. Aber bin ich denn nicht einsam, wenn ich euch gefallen will? Da verrate ich ja mich selbst. Als Mutti vor zwei Wochen krank wurde und meine Hilfe brauchte, war ich fast froh, daß ich eine Ausrede hatte, um nach Hause zu kommen. Doch schon bald ertrug ich die Art nicht mehr, wie sie sich um mich sorgte. Ich kann nichts dafür, daß ich darin immer eine Heuchelei spüre. Sie gibt vor, sich um mich zu sorgen, und damit macht sie sich für mich unentbehrlich. Ich erlebe es als eine Verführung zum Glauben, daß sie mich liebt, aber wenn sie mich liebte, würde ich diese Liebe nicht spüren? Ich bin doch nicht pervers, ich merke doch, wenn jemand mich mag, mich ausreden läßt, sich dafür interessiert, was ich sage. Aber bei Mutti fühle ich nur, daß sie von mir umsorgt und geliebt werden will. Und darüber hinaus will sie, daß ich ihr das Gegenteil glaube. Das ist doch Erpressung! Vielleicht habe ich das schon als Kind so empfunden, aber ich konnte es nicht sagen,

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