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Die Rollbahn

Die Rollbahn

Titel: Die Rollbahn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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was wir erträumen. Wir brauchen noch soviel Zeit für uns, Fritz …«
    Den langen Zug entlang schritt der Zugkommandant. Ein alter Major mit dem Pour le mérite des 1. Weltkrieges. Er winkte von weitem ab, als Leskau Inge von sich wegdrücken wollte, um zu grüßen. »Weitermachen«, sagte er lächelnd, als er an ihnen vorbeiging. An der Lokomotive sah er auf seine Armbanduhr. 10 Minuten über die Zeit. »Lassen Sie einsteigen, Herr Oberfeldwebel«, sagte er zu dem Leiter des Zugbegleitpersonals.
    Inge Hellwag sah den Zug hinunter. Eine riesige, giftige, mitleidlose Schlange, dachte sie. Sie drückte sich fester an Leskau und strich über seine Brust und die Orden. EK I, das Infanteriesturmabzeichen in Silber, das Verwundetenabzeichen … Blechmarken einer weggeworfenen Jugend, einer verratenen Generation.
    »Wo kommst du hin?« fragte sie, nur, um etwas zu sagen und die Stille zwischen ihnen aufzuheben.
    Leskau schreckte auf. »Meine Kompanie liegt bei Orscha. Dubrassna heißt das Dorf. Südlich der Rollbahn …«
    Inge nickte wieder. Orscha, dachte sie. Dubrassna … Rollbahn … Vokabeln aus einer fernen Welt. Was ist Dubrassna? Ein winziger Punkt auf einer großen Karte. Die Rollbahn – 12 Meter Breite in die Unendlichkeit des russischen Raumes. Ein Band in die Ewigkeit, eine riesige Schneise durch Felder und Sümpfe, Urwälder und Steppen, Städte und Kolchosen. Ein Wort nur, ein klingendes, fast wie ein Marschlied anmutendes Wort – Rollbahn … Rollbahn … Man hörte den Rhythmus der Motoren und den Gleichschritt der Millionen, die über sie hinwegziehen.
    »Ich werde dir jede Woche schreiben, Fritz«, sagte sie leise und streichelte seine Hände, die auf ihrer Schulter lagen. Einst hatten diese Hände versucht, Verse zu schreiben – jetzt drückten sie auf den Abzugshebel des MGs und hämmerten den Tod in die schreienden Reihen angreifender Russen. Nicht daran denken, sagte sie sich. Bloß nicht daran denken, Inge … eines Tages werden wir erwachen wie aus einem bösen Traum, und die Sonne scheint wieder über das friedliche Land und wir gehen umarmt durch die blühenden Wiesen und schauen den Pferden zu, wie sie durch die Sonne tollen und die weißen Wolken anwiehern. »Ich werde dir alles erzählen«, sprach sie weiter, »so, als wärst du dabei … Und ich werde dir immer und immer wieder schreiben: Ich liebe dich … ich liebe dich … Und: Ich warte auf dich … ich warte … warte … Damit du es nie vergißt und wiederkommst –«
    Unteroffizier Leskau schluckte. Er umfaßte Inge und preßte sie an sich. Seine Kehle war trocken, so trocken, daß er glaubte, sie würde zerreißen, wenn er jetzt etwas sagte.
    Die Feldgendarmen kontrollierten noch immer die Urlaubsscheine und Marschbefehle. Ein Oberleutnant schrie auf dem Bahnsteig herum, weil ein Feldwebel in der Ecke der Halle einen Oberschützen siebenmal um einen Fahrkartenschalter jagte, weil er nicht gegrüßt hatte. Der Oberschütze war der Putzer des Oberleutnants, der wiederum seine Koffer suchte, die irgendwo auf dem Bahnsteig allein standen.
    Drei Wagen weiter, inmitten eines Knäuels rauchender Landser, ertönte ein lautes Quietschen. Dort hatte der Obergefreite Theo Strakuweit ein Mädchen umfaßt, an sich gedrückt und so fest geküßt, daß es außer Atem kam.
    »Idiot!« brüllte einer aus dem Fenster des Wagens. »Laß das Marjellchen leben!«
    »Halt Frässä!« schrie Strakuweit zurück. »Was Lottchen ist, die kennt das!«
    Theo Strakuweit setzte Lottchen wieder auf die Erde und schob die Mütze zurück auf den breiten, fleischigen Nacken. Sein breites, ostpreußisches Bauerngesicht glänzte vor Schweiß und Wonne. In seinem prallen Brotbeutel lagen drei fette Blutwürste und zwei Flaschen Bärenfang. Reiseproviant von Lottchens Gutsdeputat.
    Unteroffizier Leskau sah über Inges Kopf hinweg auf die große, runde Bahnhofsuhr. Der dicke schwarze Zeiger schob sich langsam weiter … Minuten, die nie wiederkehren im Leben. Verlorene Minuten. Er streichelte Inges Haar und hob ihr Gesicht zu sich empor. Um ihre Lippen zuckte es, die Augen waren dunkel und groß. Sie biß die Lippen zusammen, um nicht zu weinen.
    »Bleib gesund, Inge«, sagte Leskau stockend. »Und sei vorsichtig in der Fabrik. Wann fängst du dort an?«
    »Übermorgen. Um 7 Uhr. Wir müssen alle hin …«
    »Laß dich dort nicht fertigmachen, hörst du?«
    Sie lachte, ein wenig gequält, aber sie lachte, um sein ernstes Gesicht aufzuheitern. »Ich werde schon

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