Die Rückkehr der Zehnten
dass sie gegenüber das italienische Festland sehen konnten.
Levin warf seine Sachen neben einen Felsen und breitete das Handtuch auf dem steinigen Untergrund aus. Als er die Sonnenbrille herunternahm, sah Lis, dass seine Augen vom Computerspielen rot und übermüdet waren. Er lächelte schief und deutete auf die Stelle, wo die Stadt Grado als heller Fleck am Horizont leuchtete.
»Heute könnten wir ja versuchen rüberzuschwimmen«, sagte er.
Lis lachte und schüttelte den Kopf. »Nie im Leben. Onkel Miran sagt, es sind rund zwanzig Kilometer. Das sieht nur so nah aus. Und Bojan hat mir mal was von einem riesigen Fuchshai erzählt, der vor ein paar Jahren aus dem Wasser gezogen wurde.«
»Irgendwann probiere ich es trotzdem«, meinte Levin und zog sich die Taucherflossen an. »Außerdem sind Haie scheu, das weiß inzwischen doch wohl wirklich jeder. Dass sie Menschen angreifen, ist ein Märchen. Neulich habe ich gelesen, dass Barracudas viel gefährlicher sind, weil sie ihr Revier verteidigen. Und sogar Delfine haben schon Menschen gebissen.«
Lis ertappte sich dabei, dass sie ihm gar nicht richtig zuhörte. Nachdenklich sah sie zu, wie er sich die zweite Flosse überstreifte und das Gummiband seiner Taucherbrille entwirrte.
»Levin?«
»Hm?«
»Bist du immer noch auf Mama sauer, weil du deinen Con verpasst?«
Sein Lächeln verschwand. »Ach lass mich doch mit Mama in Ruhe.«
»Sascha hat gehört, dass sie sich scheiden lassen wollen.«
Levin sah sie überrascht und beunruhigt an. Mit einem Schlag war seine hektische Fröhlichkeit wie weggeweht. »Hat Mama das gesagt?«
Lis schüttelte heftig den Kopf. »Tante Vida.«
»Und das glaubst du? So ein Unsinn! Die streiten sich doch schon immer. Papa ist stur und Mama ist zickig. Lass dir doch nichts einreden.«
Lis lehnte sich zurück und schloss die Augen. Erleichterung durchströmte sie. Sie wusste, Levin war ein Traumtänzer, Probleme, die er nicht sehen wollte, existierten für ihn einfach nicht und er lebte in seiner eigenen Welt, trotzdem fühlte sie sich in Momenten wie diesen bei ihm sicher. Vielleicht war das Selbstbewusstsein, das er zur Schau trug, nur gespielt, trotzdem tröstete es sie. Sie vergaß Mamas trauriges Gesicht, stand auf und watete mit einem wohligen Frösteln ins Meer.
Sie verbrachten den ganzen Nachmittag am Strand. Im Wasser hielten sie es allerdings nicht lange aus. Onkel Miran hatte Recht gehabt, das Meer war kalt. Mit bläulichen Lippen kamen sie immer wieder an den Strand, wo der Wind sie noch mehr frieren ließ, bis die Sonne endlich das Wasser auf der Haut trocknete und nur Salz zurückließ. Lis genoss den Salzgeschmack auf den Lippen und fühlte, wie die Wärme auf ihren Wangen zu brennen begann. Abwechselnd tauchten sie mit der Tauchermaske und ließen sich in die rauschende Unendlichkeit sinken. Levin holte zwei Hand voll Seeigel an die Oberfläche und ertauchte eine große, ovale Muschel, ein Meerohr, dessen Perlmuttschicht in der Sonne türkis glänzte. Als die Wolken aufzogen und der Wind stärker wurde, begannen die Strandbesucher ihre Sachen zusammenzupacken. Zwei Kinderhandtücher verfingen sich im Wind und verwandelten sich in lebendige lappenartige Wassertiere, die sich mit ruckartigen Sprüngen in Richtung Meer kämpften. Nur wenige Leute blieben am Strand und schauten noch eine Weile den Wellen zu, die sich immer stärker im Wind kräuselten.
»Lass uns gehen«, sagte Lis, als Levin mit der Taucherbrille prustend neben ihr auftauchte. Soeben packte der letzte Strandbesucher sein Handtuch ein und gab ihnen mit einem Pfiff und einem Wink zu verstehen, dass sie lieber rauskommen sollten.
»Einmal noch!«, sagte Levin atemlos, holte tief Luft und tauchte wieder ab. Viel zu lange blieb er unten. Der Wind raute die Wasseroberfläche auf.
»Lis!«
Erschrocken fuhr sie herum und schluckte Wasser, als ihr eine Welle ins Gesicht schwappte und ihr Halstuch mit sich nahm, das wie eine Qualle unter der Wasseroberfläche davontrieb. »Levin, verdammt«, rief sie und hustete. »Das ist nicht witzig!«
Seine Maske war beschlagen. Mit einer hektischen Bewegung riss er sie sich vom Gesicht und spülte sie aus. Der Maskenrand hatte um seine Augen herum einen Abdruck hinterlassen. Erste Regentropfen schlugen auf dem Wasser auf. Mit Erschrecken sah Lis, dass der Strand nun endgültig leer war.
»Levin, lass uns gehen. Wenn jetzt ein Gewitter losgeht!«
»Da unten ist was, Lis!«
»Aber…«
Doch Levin war schon wieder
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