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Wilhelm Storitz' Geheimnis

Wilhelm Storitz' Geheimnis

Titel: Wilhelm Storitz' Geheimnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jules Verne
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I.
    »…Also komme, so bald Du nur kannst, mein lieber Heinrich! Ich erwarte Dich mit größter Ungeduld! Die hiesige Gegend ist herrlich und gerade diese Region des südlichen Ungarns ist wie geschaffen, das Interesse eines Ingenieurs zu fesseln. Nur von diesem Gesichtspunkte aus betrachtet, wirst Du die Reise hierher nicht zu bereuen haben.
     
    Mit den herzlichsten Grüßen
     
    Markus Vidal.«
     
    So lauteten die Schlußworte eines Briefes meines Bruders, den ich – es war am 4. April – vor mehreren Jahren erhalten hatte.
    Kein warnendes Vorzeichen begleitete das Eintreffen dieses Schreibens, das mir in der üblichen Weise zugestellt wurde, nämlich durch die Vermittlung eines Boten, des Portiers und meines Dieners, welcher mir, ohne sich der Wichtigkeit dieser Handlung bewußt zu werden, den Brief auf einer Platte mit der ihm zur Gewohnheit gewordenen Ruhe überreichte.
    Auch ich war vollkommen ruhig, während ich den Bogen entfaltete und zu Ende las, bis zu jenen letzten Zeilen, die schon im Keime all die seltsamen Ereignisse enthielten, bei denen mir eine Rolle zugedacht war.
    Wie sind doch die Menschen mit Blindheit geschlagen! Unaufhörlich, ohne ihr Wissen und Wollen wird aus unendlich seinen Fäden ein geheimnisvolles Gewebe gesponnen, das man Schicksal nennt!
    Mein Bruder hat wahr gesprochen: ich bereue diese Reise nicht! Aber soll ich wirklich davon berichten? Gibt es denn nicht Dinge, die man lieber verschweigen, der Vergessenheit anheimfallen lassen soll? Wer wird einer Geschichte Glauben schenken, die so unnatürlich klingt, daß auch die kühnsten Dichter es wahrscheinlich nie gewagt haben würden, sie niederzuschreiben?
    Und trotzdem will ich es tun, will das Wagnis auf mich nehmen! Man möge mir glauben oder nicht, ich gehorche einem unwiderstehlichen Bedürfnis, in der Erinnerung noch einmal diese Reihe ganz außerhalb der Alltäglichkeit liegender Vorkommnisse zu erleben, zu denen der Brief meines Bruders gewissermaßen das Vorwort bildete.
    Mein Bruder Markus war damals achtundzwanzig Jahre alt und hatte schon sehr schmeichelhafte Erfolge als Porträtmaler errungen. Die festesten Bande innigster Zuneigung vereinten uns; meinerseits war es eine fast väterliche Liebe, denn ich war um volle acht Jahre älter als er. Wir waren beide noch sehr jung, als uns Vater und Mutter starben und so mußte ich, der große Bruder, für Markus’ Erziehung Sorge tragen. Da er frühzeitig erstaunliche Anlagen und Lust zum Malen zeigte, tat ich mein möglichstes, ihn seinem Lebensberufe zuzuführen, in dem er sich bald auszeichnete und wohlverdiente Erfolge erntete.
    Und jetzt wollte sich Markus verheiraten. Schon seit längerer Zeit hatte er seinen Wohnsitz in Ragz aufgeschlagen, einer bedeutenden Stadt Südungarns. Mehrere in der Hauptstadt Budapest verbrachte Wochen – – er hatte daselbst eine Anzahl sehr gelungener und reichlich honorierter Gemälde fertiggestellt – hatten ihn erkennen lassen, daß Künstlern in Ungarn ein sehr warmer Empfang bereitet wird; und als sein Aufenthalt in Budapest sein Ende erreicht hatte, fuhr er donauabwärts bis nach Ragz.
    Zu den angesehensten Familien dieser Stadt gehörte die Familie des Dr. Roderich, welcher einer der berühmtesten Ärzte im ganzen Ungarlande war. An irdischen Gütern reich gesegnet (denn zu einem beträchtlichen Erbteil kam das bedeutende, in der Ausübung seines Berufes erworbene Vermögen hinzu). gönnte er sich jedes Jahr eine Erholungszeit. die er auf Reisen verbrachte; selbst nach Frankreich, Italien und Deutschland war er schon gekommen. Die reichen Patienten beklagten immer lebhaft seine Abwesenheit, aber auch die armen ersehnten seine Rückkehr, denn er versagte ihnen niemals seine Hilfe und seine tatkräftige Nächstenliebe erstreckte sich auch auf die Geringsten, so daß ihm die Achtung und Liebe aller sicher war.
    Die Familie Roderich bestand aus dem Doktor, seiner Frau, seinem Sohn, dem Hauptmann Haralan, und seiner Tochter Myra. Markus hatte oft in dem gastlichen Hause geweilt und die Grazie und Schönheit des jungen Mädchens hatte einen tiefen Eindruck auf ihn gemacht, so daß er seinen Aufenthalt in Ragz auf unbestimmte Zeit verlängerte. Aber wenn Myra Roderich meinem Bruder gefiel, so kann man ruhig behaupten, ohne der Wahrheit zu nahe zu treten, daß auch er Myra Roderichs Herz gewonnen hatte.
     

    Mein Diener überreichte mir den Brief auf einer Platte. (S. 6.)
     
    Und man muß mir beipflichten: er verdiente es! Markus war

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