Die Rückkehr der Zehnten
abgetaucht. Lis holte Luft und ließ sich in das Wasser sinken. Nachdem der Wind ihr Gesicht gekühlt hatte, erschien es ihr beinahe warm. Unter Wasser öffnete sie die Augen und zwinkerte so lange, bis das Brennen nachließ. Dann sah sie nach unten. Schemenhaft wie ein Schatten tauchte Levin in die Tiefe ab. Tief, viel zu tief hinunter. Er schien sich an einen Felsen zu krallen, als würde ihn eine Strömung mitreißen. Armlänge für Armlänge zog er sich weiter zu einem Felsspalt hin. Unwillkürlich musste Lis an die Geschichten von Muränen denken, die in solchen Höhlen lebten und sich, wenn sie sich bedroht fühlten, in die Hand eines Tauchers verbissen und nicht mehr losließen. Hoffentlich kam Levin nicht auf die Idee, in die Wohnstatt einer Muräne zu fassen! Jetzt streckte er die Hand aus und griff nach einem Gegenstand, der am Rande des klaffenden Spaltes lag. Die Luft wurde knapp, das Blut dröhnte in Lis’ Ohren. Wellen hoben sie und senkten sie wieder dem Grund entgegen, bis ihr die Luft ausging. Keuchend und mit brennenden Lungen tauchte sie auf. Kalter Wind schlug ihr ins Gesicht, eine Bö trieb die Wellen vor sich her. Mit heißem Erschrecken spürte sie, wie schwer es war, gegen die Strömung anzuschwimmen. »Levin!«, schrie sie, als er ein ganzes Stück weiter draußen endlich auftauchte.
»Ich… hab’s!«, japste er.
»Raus hier!«, schrie Lis und schwamm, so schnell sie konnte. Mit wenigen Schwimmzügen hatte er sie eingeholt. Gemeinsam erreichten sie den Strand in dem Moment, als ein Platzregen einsetzte.
»Los, zur Mauer!«, rief Levin und lachte. Sie schnappten sich ihre Sachen und zogen sich zur Befestigungsmauer zurück, wo sie einen regengeschützten Vorsprung fanden und sich in ihre Handtücher einwickelten.
Lis zitterte im kalten Wind. Sie betrachtete das aufgewühlte Meer und musste unwillkürlich an den Nachbarjungen denken, der ertrunken war, vielleicht an einem Tag wie heute. Wie schrecklich musste es sein, ganz alleine im Meer zu treiben, das Entsetzen zu spüren, wenn man weiter und weiter hinausgezogen wurde. Unwillkürlich sah sie Herrn und Frau Kalan vor sich. Sie kannte die Nachbarn vom Sehen – er war dick und von der Sonne gebräunt, sie eine blasse, immer noch hübsche Frau mit schwarzem Haar und einem gefassten Gesicht. Nie hätte Lis gedacht, dass sie einen Sohn verloren hatten.
»He, krieg dich wieder ein!«, sagte Levin, der bemerkt hatte, wie sie auf das Meer gestarrt hatte. »Willst du nicht sehen, was ich gefunden habe?«
Er streckte ihr seine Hand hin. Zusammengeringelt lag darin eine schwarz angelaufene, gerissene Kette, an der ein ovaler Gegenstand hing.
»Sieht aus wie ein Medaillon«, sagte Lis und nahm die Kette und den Anhänger behutsam in die Hand. Er war schwer, sehr schwer sogar.
»Ja, und so wie es aussieht, liegt die Kette schon eine ganze Weile da unten. Vielleicht hat eine Touristin sie verloren«.
Lis fuhr mit den Fingerspitzen über die ovale Hülse. Ihre Finger kribbelten ein wenig. Unwillkürlich musste sie lächeln und das Kribbeln hüpfte in ihren Bauch und wurde zu einer Wärme, die sie den Sturmwind vergessen ließ. Das Medaillon hatte die Form einer silbernen Muschel, deren Klappen fest aufeinander gepresst waren. Der Rand war verkrustet.
»Wenn es eine Touristin war, dann muss sie die Kette vor sehr langer Zeit verloren haben«, sagte Lis. »Schau, die Kettenglieder sind mit der Hand gemacht worden. Sie sind unterschiedlich groß und an einigen Stellen unregelmäßig geformt.«
»Zeig mal!« Levins Augen leuchteten. »Dann ist die Kette ja vielleicht richtig alt! Vielleicht sogar antik?« Er nestelte mit seinen großen Händen am Medaillon.
»Pass doch auf!«, fuhr ihn Lis an. Verwundert über sich selbst stellte sie fest, dass ein leiser Hauch der Eifersucht sie überkam, als sie das Medaillon in Levins Hand sah. »Wenn es so alt ist, machst du es nur kaputt. Gib es mir.« Vorsichtig nahm sie die Silbermuschel und erfühlte eine schmale Rille. So behutsam es ging, schob sie ihren Daumennagel in den Spalt und hebelte die beiden Hälften auseinander. Der Regen hatte aufgehört, der Himmel wurde heller. Mit einem Schnappen öffnete sich das Schmuckstück. Fast hätte Lis es vor Schreck fallen gelassen.
»Wahnsinn!«, flüsterte Levin und beugte sich tiefer über die Muschel, die nun offen in Lis’ Hand lag. Auch innen war das Silber verwittert und angelaufen, dennoch hatte das Meer dort bei weitem nicht so zerstörerisch
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