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Die Rückkehr des Tanzlehrers

Die Rückkehr des Tanzlehrers

Titel: Die Rückkehr des Tanzlehrers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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ernst, aber ohne die Dinge unnötig zu komplizieren. Sie begannen eine Beziehung, und Stefan erlebte zum ersten Mal in seinem Leben, daß er fähig war, mehr für eine Frau zu empfinden als rein körperliche Begierde. Sie hieß Elena und wohnte in Norrby. Ein paar Nächte in der Woche pflegte er bei ihr zu schlafen.
    Dort hatte er auch eines Morgens, als er im Badezimmer stand, den eigenartigen Knoten in der Zunge entdeckt.
    Er unterbrach seine Gedanken. Das Krankenhaus lag vor ihm. Es nieselte immer noch. Die Uhr zeigte vier Minuten vor acht. Er ging am Krankenhaus vorbei und beschleunigte sein Tempo. Da er beschlossen hatte, zweimal um das Gelände zu gehen, wollte er es auch tun.
    Um halb neun setzte er sich mit einer Tasse Kaffee und der Lokalzeitung in die Cafeteria. Aber er las nicht und ließ den Kaffee stehen.
    Als er vor der Tür des Arztes stand, war seine Angst entsetzlich. Er klopfte und trat ein. Es war eine Ärztin. Er versuchte, in ihrem Gesicht zu lesen, was ihn erwartete: Todesurteil oder Begnadigung. Sie lächelte ihn an, aber das verwirrte ihn nur. War es Unsicherheit, Mitleid oder Erleichterung darüber, einem Menschen nicht mitteilen zu müssen, daß er Krebs hat?
    Er nahm vor ihrem Schreibtisch Platz. Sie ordnete einige Papiere, die auf dem Tisch lagen.
    Später sollte er denken, daß er dankbar dafür war, daß sie direkt zur Sache gekommen war.
    »Leider hat es sich gezeigt, daß der Knoten, den Sie in der Zunge haben, bösartig ist.«
    Er nickte und schluckte. Er hatte es die ganze Zeit gewußt.
    Seit jenem Morgen in Elenas Wohnung in Norrby. Er hatte Krebs.
    »Wir sehen keine Anzeichen von Metastasen. Weil wir es früh erkannt haben, können wir Sofortmaßnahmen ergreifen.«
    »Was bedeutet das? Schneiden Sie mir die Zunge heraus?«
    »Nein. In erster Linie kommt eine Strahlenbehandlung in Frage, und danach eine Operation.«
    »Werde ich daran sterben?«
    Er hatte seine Frage nicht vorbereitet. Sie war ihm entwichen, ohne daß er sie hätte aufhalten können.
    »Krebs ist immer eine ernste Angelegenheit«, erwiderte die Ärztin. »Aber es gibt mittlerweile gute Behandlungsmethoden. Es ist lange her, daß eine Krebsdiagnose einem Todesurteil gleichkam.«
    Über eine Stunde saß er bei der Ärztin. Als er das Zimmer verließ, war er durchgeschwitzt. Tief drinnen in seinem Magen gab es einen Punkt, der vollkommen kalt war. Einen Schmerz, der nicht brannte, der sich aber anfühlte wie die Fäuste des Psychopathen um seinen Hals. Er zwang sich, vollkommen ruhig zu bleiben. Jetzt würde er Kaffee trinken und die Lokalzeitung lesen. Dann würde er darüber nachdenken, ob er wohl sterben würde oder nicht.
    Die Lokalzeitung war nicht mehr da. Statt dessen nahm er eine der Abendzeitungen. Der Knoten von Kälte war die ganze Zeit in ihm. Er trank Kaffee und blätterte in der Zeitung. Die Worte und Bilder hatte er im selben Augenblick vergessen, in dem er die Seite umblätterte. Dennoch nahm etwas seine Aufmerksamkeit gefangen. Ein Name. Unter einem Bild. Eine Überschrift, die von einem brutalen Mord berichtete. Er starrte das Bild und den Namen an. Herbert Molin, 76 Jahre. Polizeibeamter a. D.
    Er schob die Zeitung hastig von sich und holte sich eine weitere Tasse Kaffee. Er wußte, daß sie zwei Kronen kostete, aber er bezahlte nicht. Er hatte Krebs und konnte sich gewisse Freiheiten herausnehmen. Ein Mann, der zur Theke geschlurft war, schenkte sich Kaffee ein. Er zitterte so stark, daß fast nichts in der Tasse landete. Stefan half ihm. Der Mann blickte ihn dankbar an.
    Als er wieder an seinen Tisch kam, zog er die Zeitung zu sich heran. Er las, was dort stand, ohne wirklich zu verstehen, was es bedeutete.
    Als er als junger Polizeianwärter ins Polizeipräsidium von Boras gekommen war, hatte man ihn dem ältesten und erfahrensten Kriminalbeamten vorgestellt. Herbert Molin. Ein paar Jahre lang arbeiteten sie zusammen in der Mordkommission, bis Molin in Pension ging. Stefan hatte später oft an ihn gedacht. Sein unruhiges Suchen nach Zusammenhängen und Spuren. Viele hatten hinter Molins Rücken schlecht von ihm gesprochen. Aber für Stefan war er eine wahre Wissensquelle. Molin predigte nicht zuletzt, daß die wichtigste und am meisten unterschätzte Ressource des guten Kriminalbeamten die Intuition sei. Stefan lernte mit zunehmender Erfahrung, daß Molin recht hatte.
    Herbert Molin war ein Einzelgänger gewesen. Niemand, den Stefan kannte, hatte ihn je zu Hause in dem Einfamilienhaus besucht, das

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