Die Rückkehr (German Edition)
mich nicht rangeschlichen. Ich war schon hier.«
Nun roch sie die Lakritze, so kräftig, dass sie nicht wusste, warum sie den Geruch nicht wahrgenommen hatte. Vielleicht wegen des widerlichen, teerartigen Gestanks der Zigaretten. Bruce saß auf einer verschlissenen karierten Couch, aus deren Seitenteilen die Füllung herausquoll wie Wolken, die aus einem Sommerhimmel verbannt wurden. Er hatte ein blaues Auge, und der von der geschwollenen Haut umgebene Augapfel war blutunterlaufen und feucht.
»Hast du dich angestoßen?« Oder hat dich dein Daddy gestoßen?
»Yeah. An Rochesters Faust.«
»Rochester?«
Bruce zuckte mit den Schultern. »Ach, er ist ein Raufbold. Vergiss ihn.«
»Das hier scheint ein gutes Versteck zu sein«, sagte sie. Ihre Verärgerung wurde von ihrem Mitleid gemildert.
»Nun, die einzigen, die es kennen, sind die, die schon eine Weile hier sind.«
»Seit wann bist du schon hier?«
Er zuckte erneut mit den Schultern. »Ich bin ein Kind. Es fühlt sich an wie schon immer.«
»Arbeitet dein Vater hier?« Sie konnte nicht glauben, dass sie den Balg nicht nur tolerierte, sondern sich sogar mit ihm unterhielt. Aber nachdem sie so lange nur unter Erwachsenen gewesen war, tat die Abwechslung gut. Außerdem sah er so aus, als ob er einen Freund gebrauchen könnte.
»Ja. Meine Mutter ist auch tot. Warum zeichnest du so viel?«
Meine Mutter ist auch tot? »Darum. Jeder hat so seinen Tick, oder?«
»Kann ich mal sehen?«
Kendra schob den Block über den Tisch bis an den Rand. »Tu, was du nicht lassen kannst.«
Bruce erhob sich von der Couch. Der Lakritzegeruch war nun stärker, und wurde gefolgt von dem widerlichen Fischgestank. Der Junge konnte ein Bad vertragen.
»Sieht aus wie der zweite Stock«, sagte Bruce. »Diese Kinder sehen lustig aus, so wie aus einem Comic.«
Kinder? Kendra überprüfte die Darstellung des Korridors. Es war eine schnelle perspektivische Arbeit gewesen, die Linien des Korridors trafen sich im Fluchtpunkt irgendwo am Horizont. Nicht gerade umwerfend, auch nicht mit dem Ziertischchen mit der Vase und den Plastikblumen. Sie hatte mit ein paar Strichen die schattigen Bereiche markiert und plante, sie später mit Tinte zu schraffieren und aus Spaß ein Gespenst einzuzeichnen, oder Emily Dee mit einem Samurai-Schwert für die Manga-Fans.
»Es ist nur ein Korridor«, sagte sie. »Ich bin noch nicht fertig.«
»Zeichnest du immer Gesichter in deine Bilder?«
»Noch so ein Tick von mir. Wenn ich groß bin, will ich meine eigenen Comicbände gestalten. Ich tippe, weil mein Dad schon einen Namen in der Para-Branche hat, wird es mir leichter fallen, einen Verleger zu finden. Ich kann mich als ›Diggers Tochter‹ anpreisen.«
Bruce beugte sich noch weiter vor. Normalerweise ließ sie niemanden ihre unfertigen Arbeiten sehen, aber sie dachte sich, dass der Junge für ein paar Ideen gut sein könnte. Allerdings war der Fischgeruch jetzt, wo er nur noch eine Armlänge von ihr entfernt war, überwältigend.
»Wie sieht’s aus, kannst du mit Geistergeschichten aufwarten?«, fragte sie und erwartete den gleichen Legendenscheiß, wie sie ihn an der Rezeption aufgetischt bekommen hatte. »Ist dir hier irgendwas Unheimliches passiert?«
Er berührte das Papier mit seiner Fingerspitze und zog eine Form nach. Dann sah sie es, die dunklere Schattierung dort, wo sie ihren Bleistift zur Seite geneigt und mit Zickzackbewegungen schraffiert hatte. Es sah so aus, als ob zwei kleine Gestalten am Ende Korridors standen und in den Schatten warteten.
»Ich glaube nicht an Geister«, sagte er mit einem Schaudern in der Stimme.
»Klug von dir.«
»Zeichnest du ein Bild nur für mich?« Ein Winkel seines Mundes hob sich in einem schwachen Versuch eines Lächelns, und sein blasses, verletztes Gesicht sah so elend und mitleidserregend aus, dass Kendra sich dafür schämte, von ihm als Balg gedacht zu haben. Immerhin, wenn ihre Mutter nicht gestorben wäre, könnte sie selbst einen kleinen Bruder bekommen haben und–
Sie wendete ihren Blick von den leeren Augen und dem glänzenden, blutunterlaufenen Fleisch um seine Nase ab. »Klar doch, Bruce. Willst du Spiderman oder Batman?«
»Ich glaube auch nicht an Helden. Zeichne was Furchterregendes. Wie die beiden Kinder.«
Kendra suchte in ihrem Skizzenblock nach einem leeren Blatt. Dann begann sie, die andere Seite des Pausenraums zu skizzieren. »Okay. Ich werde sie auf der Couch sitzend zeichnen, so als ob sie die Beine von jedem abbeißen
Weitere Kostenlose Bücher