Die Runen der Erde - Covenant 07
1
Mutters Sohn
»Nein, Mr. Covenant«, wiederholte sie zum dritten Mal. »Das kann ich nicht.«
Seit er ihr Büro betreten hatte, wünschte Linden sich, er würde fortgehen, aber er starrte sie an, als hätte er kein Wort verstanden. »Ich sehe das Problem nicht, Doktor Avery.« Seine Stimme weckte in ihr Echos, die an seinen Vater erinnerten: aufblitzende Erinnerungen wie glitzernde Lichtreflexe auf unruhigem Wasser. »Ich bin ihr Sohn. Ich habe das Recht dazu. Und ich bin für sie verantwortlich.« Trotz der Unterschiede zogen sogar seine Gesichtszüge ein Schleppnetz über ihr Herz und brachten Schmerzen und Sehnsüchte mit herauf. »Ihnen bedeutet sie nichts, nur ein Problem, das Sie nicht lösen können. Eine Belastung für den Steuerzahler. Eine Vergeudung von Ressourcen, die Sie nutzen könnten, um jemand anderem zu helfen.« Seine Augen standen etwas zu weit auseinander, sein ganzes Gesicht war zu breit. Das Fleisch von Kinn und Wangen deutete Zügellosigkeit an.
Und trotzdem ...
Hätte er aus Ton bestanden, hätten ein bis zwei rasche Abtragungen mit dem Bildhauerspachtel, eine nur etwas schärfere Linie an beiden Mundwinkeln genügt, um seine Wangen streng wie die eines Propheten zu machen. Ein Zusammenkneifen wie von altem Leid in den Augenwinkeln; ein wenig grauer Staub, um sein Haar um Jahre älter erscheinen zu lassen. Die Augen selbst hatten genau die richtige Farbe, eine unruhige Färbung wie eine Schattierung von Wahnsinn oder prophetischer Gabe. Oh, er hätte sein Vater sein können, wäre er nicht so jung und nicht gezeichnet gewesen. Hätte er jemals einen Preis zahlen müssen, der so maßlos war wie der, den sein Vater hatte zahlen müssen ...
Jedenfalls war er hartnäckig genug, um Thomas Covenant sein zu können.
Er schien ihr in einem Dunst aus Erinnerungen gegenüberzusitzen, sie an den Mann zu erinnern, den sie geliebt hatte. An den Mann, der sich voller Angst und Zorn erhoben hatte, um die schwere Bürde seines Schicksals auf sich zu nehmen.
Sie wich dem Blick des jungen Mannes aus und betrachtete die Wände ihres Büros, ohne sie wirklich wahrzunehmen. Bei anderer Gelegenheit hätte die hier herrschende strikte Professionalität vielleicht beruhigend gewirkt. Wie der aufgeräumte Schreibtisch und die massiven Karteischränke schienen ihre gerahmten Diplome für sie zu bürgen. In der Vergangenheit hatten sie ihr manchmal Trost gespendet. Heute jedoch blieben sie wirkungslos.
Wie oft hatte sie Thomas Covenant in den Armen gehalten? Allzu selten; nicht oft genug, um ihren Hunger nach ihm zu stillen. Sie trug noch immer seinen Ehering aus Weißgold an einer Silberkette um den Hals. Er war alles, was ihr von ihm geblieben war.
»Ich kann sie erreichen, Doktor Avery«, fuhr der Sohn mit einer Stimme fort, die zu ausdruckslos war, um die seines Vaters zu sein. »Sie können es nicht. Sie haben es seit Jahren versucht. Ich bin sicher, dass Sie Ihr Bestes getan haben. Aber hätten Sie sie erreichen können, wäre sie jetzt wieder geistig gesund. Es wird Zeit, sie gehen zu lassen. Lassen Sie mich sie mitnehmen.«
»Mr. Covenant«, sagte sie eindringlich, »ich erkläre Ihnen noch mal: Das kann ich nicht. Die Gesetze dieses Bundesstaats erlauben es nicht. Ärztliche Standesethik erlaubt es nicht.«
Ich erlaube es nicht.
Joan Covenant war so unzugänglich, wie ihr Sohn behauptete. Trotz aller nur vorstellbaren Medikamente und Therapien hätte sie ebenso gut katatonisch sein können. Tatsächlich wäre sie ohne ständige Pflege längst gestorben. Aber sie bedeutete Linden Avery keineswegs nichts. Glaubte Roger Covenant das wirklich, würde er die Frau, die sich ihm in den Weg stellte, nie verstehen.
Seine Mutter war Thomas Covenants Exfrau. Vor zehn Jahren hatte Linden beobachtet, wie Covenant sein Leben für Joans Leben hingegeben hatte – mit einem Lächeln, um sie zu beruhigen. Dieses Lächeln hatte Lindens Herz aus seinem Versteck gelockt, die schützende Hülle aus Lügen und Verpflichtungen fortgewischt. Manchmal glaubte sie, alles, was sie seither getan hatte, was sie geworden war, habe in diesem Augenblick begonnen. Covenants Lächeln hatte eine Detonation ausgelöst, die sie schlagartig von der Todessehnsucht ihrer eigenen Eltern befreit hatte. Die neue Frau, die aus dieser Explosion hervorgegangen war, hatte Thomas Covenant aus tiefstem Herzensgrund geliebt.
Und um seinetwillen würde sie Joan nicht im Stich lassen.
Trotzdem saß ihr jetzt Roger Covenant an ihrem
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