1038 - Der Seelen-Kerker
Der Alte wurde von den Fürsorgern nicht eben für voll genommen.
Man hatte ihn für verwirrt erklärt, da er des öfteren über Dinge gesprochen hatte, die ins Reich der Legende gehörten und der Kirche einfach nicht passen konnten.
Alexandre Capus dachte anders darüber. Er hatte sich mehrmals mit dem alten Mann getroffen und sich mit ihm in ein kleines Zimmer zurückgezogen.
Nein, so durcheinander war der Mann nicht gewesen. Höchstens ein wenig verstört. Das lag an den Dingen, die er in der Vergangenheit durchlebt und durchlitten hatte. Er hatte sich mit einem schlimmen Thema beschäftigt, von dem sich die offizielle Kirche immer mehr distanzierte. Es war um die Inquisition gegangen und schreckliche Folgen. Zeugnisse bis in die Gegenwart hinein ließen sich finden, und deshalb hatte sich Capus auch auf den Weg gemacht.
»Du wirst den Ort finden, mon ami !« hatte der alte Mann gesagt.
»Ich habe ihn auch gesehen und bin durchgedreht. Ich habe es nicht glauben wollen. Ich konnte fliehen, deshalb lebe ich noch. Aber die Entdeckung hat Spuren bei mir hinterlassen, und die sind auch heute noch nicht verschwunden, trotz der vielen Jahre, die vergangen sind.«
Die beiden Männer hatten Vertrauen zueinander gefaßt. Nach mehrmaligen Besuchen hatte Alexandre Bescheid gewußt. Der alte Mann war sogar noch in der Lage gewesen, ihm selbst angelegte Zeichnungen mit auf den Weg zu geben, damit er nicht in die Irre lief.
Zwei Tage später war der Informant tot. Urplötzlich war er an einem Herzschlag gestorben. So jedenfalls hatte die offizielle Todesursache gelautet.
Capus war davon nicht so überzeugt gewesen. Nur hatte er das Gegenteil nicht beweisen können.
Daß ihm der alte Mann die letzten Informationen noch so kurz vor seinem Tod gegeben hatte, empfand Capus als einen Hinweis des Schicksals. Er war ausersehen worden, den verfluchten Kerker zu finden, und er würde ihn entdecken das stand fest.
Der Zugang zum Stollen hatte er bereits freilegen können. Dann war er in diese dunkle Röhre hineingegangen, die dort endete, wo früher einmal ein Turm gestanden hatte. Er war längst zusammengebrochen, aber der Kerker war geblieben. Dieser Raum unter dem Turm, der zu einem der schlimmsten Orte der Inquisition gehört hatte.
Capus’ Atem hatte sich einigermaßen beruhigt. Er lehnte an der rauhen Wand und hörte es immer wieder in bestimmten Abständen klatschen. Diesmal trafen ihn die Tropfen nicht. Hoch über ihm gab es eine Stelle, in der Wasser in das Erdreich einsickerte und sich seinen Weg bis in die Tiefe gebahnt hatte.
Mit den Fingern der rechten Hand umklammerte er die lichtstarke Stableuchte. Er hatte sie einige Male eingeschaltet, um sich orientieren zu können. Ansonsten war er in der Dunkelheit weitergegangen, wie jemand, der nicht unbedingt gesehen werden wollte.
Der Tunnel führte leicht bergab. Aber nicht zu tief in die Erde. Aus den Aufzeichnungen hatte Capus erfahren, daß die Verurteilten vom Grund des Turms noch über eine Treppe in die Tiefe gegangen waren, um im Kerker zu landen.
Zu Beginn hatte der Mann seine Schritte mitgezählt, später nicht mehr. Da hatte er sich auf sein Gefühl verlassen, und das war auch jetzt noch positiv vorhanden. Er schaltete die Lampe wieder ein und hoffte, sich nicht geirrt zu haben.
Die Luft war immer schlechter geworden, je weiter er sich vom Eingang entfernt hatte. Hier unten überkam ihn der Eindruck, sie sehen zu können wie eine dicke schwarze Watte, die träge an ihm vorbeischwebte und nun vom Strahl der Lampe durchschnitten wurde.
Capus lachte, als er sah, daß sein Licht ein Ziel traf. Der Kegel fraß sich förmlich an den rostigen Stäben der alten Gittertür fest, denn sie bildete den Zugang zum Verlies, in dem früher so viele Menschen gestorben waren, die von der Inquisition nicht direkt zum Tode, sondern zur Kerkerhaft verurteilt worden waren, was oftmals noch viel schlimmer gewesen war.
Für diese Art der Verurteilung stand ein Name.
Bernard Gui!
Einer der größten Inquisitoren, die die Welt je gekannt hatte. Ein Henker der ersten Klasse. Einer, dem es Spaß machte, Menschen in die Kerker zu stecken und sie dort verhungern und im eigenen Dreck verkommen zu lassen.
Die Kirchengeschichte wußte natürlich über diesen Menschen Bescheid. Man schwieg darüber, da die Vergangenheit nicht eben rühmlich gewesen war.
Capus wollte nicht schweigen. Er hatte sich vorgenommen, diese Zeit aufzuhellen, auch wenn bereits Hunderte von Jahren seither
Weitere Kostenlose Bücher