Die russische Herzogin
an«, sagte Olly mit Bedauern in der Stimme. »Sascha hat vielmehr vor, seinen Sohn in Nizza zu besuchen. Nikolajs Tuberkulose schreitet voran, er sei nur noch Haut und Knochen, schreibt er.«
Karl runzelte die Stirn. »Schlägt die Behandlung in Nizza auch nicht an? Armer Sascha, da hat er einen Thronfolger und nichts als Sorgen mit ihm!«
»Noch ist Nikolaj nicht gestorben«, erwiderte Olly rau. »Aber lassen wir das, Saschas Brief handelt eigentlich von etwas anderem: Es geht um Wera, mein Patenkind …«
»Nadann … Evelyn, die Zeitung bitte.« Karls Interesse an der Depesche des Zaren hatte offensichtlich rapide nachgelassen.
Dennoch faltete Olly den Brief, den sie in ihrer Rocktasche getragen haben musste, auseinander, um daraus vorzulesen. Evelyn nutzte den Moment, um die erste Tasse Kaffee des Morgens zu genießen.
»Liebste Olly, ich hoffe, mein Brief erreicht Euch bei bester Gesundheit. Hier kommt der Winter dieses Jahr mit Siebenmeilenstiefeln daher und –« Irritiert durch Karls Zeitungsrascheln, hielt Olly inne. » Am besten komme ich gleich zum Wesentlichen: Liebstes Schwesterherz, heute möchte ich Dich um einen Gefallen bitten. Wie Du weißt, hat der König von Griechenland ein Auge auf Kostys und Sannys älteste Tochter Olgata geworfen. Ich muss Dir nicht erklären, dass solch eine gute Partie auch eine Stärkung der russisch-griechischen Beziehungen bedeuten würde. Sanny ist seit König Georgs Besuch völlig überdreht. Romantisch, wie sie ist, sieht sie darin eine Wiederholung ihrer eigenen Geschichte. « Olly schaute auf, suchte Evelyns Blick. »Mein Bruder Kosty hat sehr jung geheiratet. Er und Sanny haben sich sozusagen im Kinderzimmer kennengelernt. Beide behaupten nach wie vor, es wäre gleich die große Liebe gewesen, aber meiner Ansicht nach war es vor allem Kostys große Sehnsucht, endlich der Knute seiner schrecklich strengen Erzieher entfliehen zu können.« Sie zuckte in einer für sie typischen Geste mit den Schultern. Dann las sie weiter.
»Nun setzen Kosty und Sanny alles daran, Olgatas Erziehung in den nächsten zwei, drei Jahren zu vollenden. Sich gleichzeitig um Weras Erziehung zu kümmern überfordert die beiden allerdings sehr, vor allem, da Wera derzeit in einer schwierigen Phase ist …« Olly stockte, ihr Blick flog über das Blatt, erst dann las sie weiter.
»Olly, Du kennst unseren Bruder und unsere liebe Schwägerin selbst gut genug, um zu wissen, dass es angeraten ist, ihnen in solch einer Situation helfend zur Seite zu stehen. Geliebte Schwester, wäre es nicht schön, wenn Du als Patentante die kleine Wera für eine gewisse Zeit aufnehmen würdest? Bei Dir und Karl wüsste ich unsere Nichte bestens versorgt.« Olly ließ den Briefbogen sinken. »Saschafügt noch an, ich würde Russland einen großen Dienst erweisen. Das hätte er nun wirklich nicht extra sagen müssen. Ich helfe doch immer, wo es geht.«
Evelyn runzelte die Stirn. Was war denn am Besuch eines Kindes derart staatstragend, dass sich der Zar höchstpersönlich darum kümmerte?
»Wera hat eine schwierige Phase, aha. Und da sollst ausgerechnet du sie aufnehmen?«, fragte Karl.
»Traust du mir das etwa nicht zu?«, fuhr Olly auf. »Nur weil wir keine eigenen Kinder haben, heißt das noch lange nicht, dass ich unfähig bin, solch ein kleines Wesen liebzuhaben und zu betreuen.« Wie immer, wenn es um das Thema Kinder ging, begannen Ollys Augen verdächtig zu glänzen. Wut, Trauer, ein Hauch von Resignation – selten hatte Evelyn eine Frau mit so viel Tiefe im Blick gesehen wie Olga. Es schien, als würden ihr noch viele weitere Worte auf den Lippen liegen, aber wie so oft schluckte sie diese hinunter.
War so viel Contenance nicht zu viel des Guten?, fragte sich Evelyn. Vielleicht wäre es wirklich besser, die Prinzessin würde ihrem Mann einmal gehörig die Meinung sagen! Oder tat sie dies, heimlich, hinter verschlossenen Türen? Es konnte doch nicht immer nur eitel Sonnenschein zwischen den beiden herrschen, oder?
»Aber warum gibt Ihr Bruder Konstantin seine Tochter nicht zu jemandem in Obhut, der in der Nähe wohnt? Russland und Württemberg liegen ja nicht gerade nur einen Katzensprung voneinander entfernt«, fragte sie vorsichtig.
»Und wenn schon!«, sagte Olly leichtherzig. »Wir Geschwister sind uns im Herzen nahe. Davon abgesehen, bin ich Weras Patentante. Also ist es selbstverständlich, dass meine Familie mich um Hilfe bittet.« Olly langte über den Tisch, ergriff die Hand ihres
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