Die russische Herzogin
Aber fort von hier, vielleicht sogar fort aus Russland.«
»Und wohin um alles in der Welt willst du sie geben? Wer würde sie nehmen?«
»Das ist in der Tat ein Problem …«
Atemlos folgte Wera dem Wortwechsel. Die Kammer war auf einmal zu eng, die Wände kamen auf sie zu, wollten sie erdrücken. Taumelnd wich Wera von der Wandritze zurück, fächelte sich Luft zu. Vielleicht – wenn sie nichts hörte, würden sich die Worte in nichts auflösen.
»Es ist ja nicht so, als ob mir dieser Gedanke nicht auch schon gekommen wäre«, sagte ihre Mutter. »Ich habe deswegen längst an Marie geschrieben. Aber meine liebe Schwester meinte, es sei ihr unmöglich, das Kind aufzunehmen. Dabei besäße sie als Königin von Hannover wirklich alle Mittel, um uns zu helfen!«
»Undwenn schon. Warum sollte sie sich das Leben unnötig schwermachen?« Weras Vater lachte bitter.
»Wenn Marie nicht will, müssen wir nach jemand anderem Ausschau halten, der Wera in seine Obhut nimmt. Sie in eine Anstalt zu geben wäre das letzte Mittel der Wahl. Stell dir vor, welches Gerede dies aufwirbeln würde! Wir würden uns zum Gespött von ganz Petersburg machen. Am Ende hieße es noch, unter den Romanows grassiere eine Geisteskrankheit.«
Wie verschüttete Tinte einen Stoff durchdrang, so durchdrangen die Worte ihrer Eltern allmählich Weras Bewusstsein. Sie sollte fort. Warum? In eine Anstalt? Fort aus Russland? Wohin?
»Ich hab’s!« Die zwei Worte, so triumphierend von ihrer Mutter ausgerufen, versetzten Wera erneut in Panik. Sie zog die Knie an, legte den Kopf darauf und wiegte sich hin und her. Alles würde gut werden. Gut. Nicht böse.
»Kosty, ich habe die Lösung für all unsere Probleme: Wir geben Wera zu Olly nach Stuttgart! Schließlich ist sie ihre Patentante, da kann sie schlecht nein sagen, wenn wir sie um diesen Gefallen bitten, oder?«
1. KAPITEL
Stuttgart, Herbst 1863
W ährend draußen auf den Straßen der Stadt das Leben in vollem Gange war, herrschte im Frühstückssalon des Kronprinzenpalais noch morgendlicher Müßiggang. Wie so oft war Thronfolger Karl auch am Vorabend erst sehr spät nach Hause gekommen und saß nun blass und in sich gekehrt am Frühstückstisch. Obwohl er nach seinem nächtlichen Ausgang die Kleidung gewechselt hatte und einen Morgenrock trug, roch er aus allen Poren nach Zigarettenrauch und Wein.
Was für ein schrecklicher Mann!, dachte Baronin Evelyn von Massenbach nicht zum ersten Mal bei sich, während sie ihm und seiner Gattin, der Kronprinzessin Olga, aus diversen Zeitungen vorlas. Karls Leib und sein Gesicht waren infolge seiner Lebensweise von Jahr zu Jahr aufgedunsener und schwammiger geworden, und seine Augen wirkten kleiner. Lag das nur daran, dass der Thronfolger regelmäßig mit befreundeten Herren durch sämtliche obskure Stuttgarter Gasthäuser zog und die Nacht zum Tage machte? Gott sei Dank wusste Evelyn nicht, mit wem er unterwegs gewesen war und zu welchem Zweck. So brauchte sie, wenn seine Gattin sie fragte, nicht zu lügen. Je weniger sie wusste, desto besser! Andere hielten sich mit ihrer Neugier nicht derart zurück, und so wurde in den Salons der Stadt heftig über das »unziemliche« Verhalten des Kronprinzen getratscht. Wie gut, dass seine Gattin davon nichts mitbekam!
ImGegensatz zum derangierten Kronprinzen wirkte Olly, wie Kronprinzessin Olga von allen genannt wurde, an diesem Herbstmorgen frisch und ausgeschlafen. Das grün-silbern karierte Kleid, das sie erst kürzlich gemeinsam im feinsten Modehaus der Stadt ausgesucht hatten, stand ihr ausnehmend gut, befand Evelyn zufrieden. Der Blick, den sie Olly zuwarf, war voller Bewunderung, Zuneigung und Hingabe. Mit ihren einundvierzig Jahren war die Zarentochter noch immer schlank wie eine russische Birke, ihr Blick war klar, und keinerlei Fältchen oder Linien krochen über ihr edles Antlitz. Für die dreiunddreißigjährige Evelyn, die ebenfalls als äußerst attraktiv galt, stand fest, dass ihre Herrin eine sehr schöne Frau war. Und dieser Meinung schlossen sich die meisten an. Sogar der berühmte Maler Franz Xaver Winterhalter hatte bei seinem letzten Besuch verlauten lassen, dass er an sämtlichen europäischen Höfen lange suchen musste, um eine Schönheit wie Olly zu erblicken.
Schönheit … Nun, sie war allerdings kein Garant für ein glückliches Leben.
Eine Welle von Unmut schwappte über Evelyn, während sie versuchte, den Geruch nach Zigarettenrauch, der von dem Prinzen ausströmte, zu
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