Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth
Zuschauermenge, in der Entfernung ein paar Soldaten: Wo habe ich das nur schon einmal gesehen, fragte er sich. Auch war ihm klar, was als Nächstes geschehen musste: Eine kleine Gruppe von Gefolgsleuten des Toten würde sich zusammenschließen und gegen die Macht und Autorität eines gewaltigen Reiches aufbegehren …
Ja, natürlich! Das waren die Anfänge des Christentums!
Als Philip dies begriff, wusste er auf einmal genau, was er zu tun hatte.
Er stellte sich mit dem Rücken zum Altar vor die Menge, in der Hand noch immer das abgebrochene Schwert. Aller Augen richteten sich auf ihn. Selbstzweifel keimten auf: Kann ich es wirklich? Kann ich eine Volksbewegung ins Leben rufen – hier und jetzt? Eine Bewegung, die den Thron Englands erschüttern wird? Er blickte in die Gesichter der Menschen und erkannte neben unsäglicher Trauer und Wut in einer oder zwei Mienen auch einen Funken Hoffnung.
Er hob das Schwert in die Höhe.
»Dieses Schwert hat einen Heiligen getötet«, sagte er.
Zustimmendes Gemurmel war die Antwort.
Ermutigt fuhr Philip fort: »Wir alle wurden heute Abend Zeugen eines Martyriums.«
Die Priester und Mönche wirkten überrascht. Ebenso wie Philip war ihnen die tiefere Bedeutung des Mordes nicht sofort aufgegangen. Die einfachen Gläubigen aus der Stadt wussten indessen genau Bescheid, und so stimmten sie ihm hörbar zu.
»Jeder von uns muss ausgehen und verkünden, was er gesehen hat.« Einige Zuhörer nickten heftig. Sie hörten ihm zu – aber Philip wollte mehr von ihnen. Er wollte sie inspirieren. Predigen war nie seine Stärke gewesen. Er gehörte nicht zu jenen Männern, die eine Menge in Begeisterungstaumel versetzen konnten, die sie lachen und weinen machen konnten und sie dazu bewegen, ihren Führern überallhin zu folgen. Philip wusste nicht, wie man seine Stimme zum Beben brachte und den Glanz des Ruhms in seine Augen zauberte. Er war ein praktischer Mensch, der mit beiden Beinen auf dem Erdboden stand – und hätte doch, in dieser Stunde, mit Engelszungen reden müssen.
»Bald wird jeder Mann, jede Frau und jedes Kind in Canterbury wissen, dass Erzbischof Thomas von Schergen des Königs ermordet wurde. Doch das ist erst der Anfang. Die Kunde wird sich alsbald über ganz England und danach über alle Länder der Christenheit verbreiten …«
Er schaffte es nicht, die Menschen zu fesseln; er spürte es selbst. Auf manchen Gesichtern zeigten sich Unzufriedenheit und Enttäuschung. Ein Mann rief: »Aber was sollen wir tun?«
Sie brauchen ganz bestimmte Handlungsvorgaben, erkannte Philip, und zwar sofort. Man kann nicht einen Kreuzzug ausrufen und dann die Leute ins Bett schicken …
Ein Kreuzzug. Das wäre eine Idee.
»Morgen werde ich dieses Schwert nach Rochester bringen«, fuhr er fort. »Und übermorgen nach London. Wollt Ihr mich begleiten?«
Die meisten Zuhörer starrten ihn nur mit leeren Augen an. Doch aus dem Hintergrund rief eine Stimme: »Ja!« Und ein oder zwei andere Rufer schlossen sich ihr an.
Philip hob die Stimme. »Wir werden unsere Geschichte in jeder Stadt und jedem Dorf in England bekannt machen. Wir werden den Menschen das Schwert zeigen, das den heiligen Thomas tötete. Wir werden sie die Blutflecken auf seinen Priestergewändern sehen lassen …« Er redete sich in Hitze und ließ seinen Zorn erkennen. »Und wir werden einen Aufschrei auslösen, der sich über alle Länder der Christenheit verbreiten und sogar im fernen Rom gehört werden wird. Wir werden dafür sorgen, dass sich die gesamte zivilisierte Welt gegen die Barbaren kehrt, die dieses unsägliche, gotteslästerliche Verbrechen begangen haben!«
Diesmal gab es kaum noch jemanden, der Philip die Zustimmung verweigerte. Alle hatten sie nach einer Möglichkeit gesucht, ihren Gefühlen Ausdruck zu verleihen, und da war nun einer, der ihnen diese Möglichkeit verschaffte.
»Dieses Verbrechen«, sagte Philip langsam, und seine Stimme erhob sich zu einem Schrei, »dieses Verbrechen wird nie, nie, nie vergessen werden!«
Und wie aus einer Kehle stimmten sie ihm zu.
Plötzlich wusste Philip, wohin ihn sein Weg führte. »Unser Kreuzzug beginnt sofort, hier und heute!«
»Ja!«
»Wir tragen dieses Schwert durch alle Straßen der Stadt!«
»Ja!«
»Und wir erzählen jedem Bürger in dieser Stadt, was wir heute Abend hier gesehen haben!«
»Ja!«
»Nehmt euch Kerzen, und folgt mir nach!«
Mit hocherhobenem Schwert marschierte er durch die Kathedrale. Und die Menschen folgten ihm
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