Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth
seinen Vater ermorden könne … In beiden Fällen hatten ihn dieselben blutrünstigen Helm- und Schwertträger eines Besseren belehrt, ihm die grauenvolle Wahrheit gezeigt. Und da saß er nun, ein zweiundsechzigjähriger Mann, vor dem entsetzlich zugerichteten Leichnam Thomas Beckets, und war besessen von der kindischen, unvernünftigen, alles verzehrenden Wut eines sechsjährigen Knaben, dessen Vater ermordet wurde.
Er erhob sich. In der Kathedrale herrschte eine ungemein bedrückende Atmosphäre. Priester, Mönche und einfache Gläubige aus der Stadt kamen langsam näher und starrten voller Grauen auf die Leiche des Erzbischofs. Philip spürte, dass sich hinter ihren vom Schock gezeichneten Gesichtern ähnlich wie bei ihm selbst Wut verbarg. Ein oder zwei Menschen murmelten, kaum hörbar, Gebete vor sich hin. Eine Frau bückte sich rasch nieder und berührte den toten Körper, als verhieße eine solche Berührung Glück. Einige andere folgten ihrem Beispiel. Dann sah Philip eine Frau, die verstohlen ein kleines Fläschchen mit dem Blut des Erzbischofs füllte, als wäre er ein Märtyrer.
Die Geistlichen kamen langsam wieder zu Sinnen. Osbert, der Kämmerer des Erzbischofs, dem die Tränen über das Gesicht strömten, zog ein Messer hervor und schnitt einen Stoffstreifen aus seinem Hemd. Dann kniete er neben dem Leichnam nieder und band mit ungeschickten Fingern das abgetrennte Schädeldach wieder an den Kopf. Es war ein kümmerlicher Versuch, der auf so grässliche Weise verunstalteten Person des Erzbischofs wenigstens ein Mindestmaß an Würde wiederzugeben.
Ein paar Mönche brachten eine Tragbahre, auf die sie Thomas vorsichtig betteten. Viele Hände boten ihre Hilfe an. Philip sah, dass die Miene des Erzbischofs friedlich war; als einziges Zeichen der Gewalt erkannte er ein dünnes Blutrinnsal, das sich von der rechten Schläfe quer über die Nase zur linken Wange zog.
Die Mönche hoben die Tragbahre hoch und machten sich auf den Weg. Philip nahm den Schwertgriff mit der abgebrochenen Klinge auf. Die Frau, die das Blut des Erzbischofs aufgefangen hatte, ging ihm nicht mehr aus dem Sinn. Er spürte, dass ihre Handlung ungemein bedeutungsträchtig war, wusste allerdings noch nicht, in welcher Hinsicht.
Wie von einer unsichtbaren Kraft getrieben, folgte die Menge der Bahre mit dem Ermordeten. Auch Philip ließ sich mitreißen, gefangen wie alle anderen in einem seltsamen Bann. Die Mönche trugen die Bahre durch den Chor und setzten sie vor dem Hochaltar vorsichtig auf dem Boden ab. Die Menschen, von denen viele jetzt laut beteten, sahen, wie ein Priester ein sauberes Tuch brachte und das bischöfliche Haupt sorgfältig verband. Zum Schluss stülpte er ihm eine neue Bischofsmütze über, die den Verband zum großen Teil bedeckte.
Ein Mönch zerschnitt den blutverschmierten schwarzen Mantel des Erzbischofs. Unschlüssig, was er mit dem Kleidungsstück tun sollte, drehte er sich um und wollte es achtlos fortwerfen. Da sprang aus der Menge ein Bürger hervor und riss es ihm aus der Hand, als wär’s ein Gegenstand von größtem Wert.
Und da fiel es Philip wie Schuppen von den Augen. Er wusste auf einmal, was ihn die ganze Zeit so bewegte. Die Leute sahen in Thomas einen Märtyrer. Sie sammelten sein Blut und seine Kleider, als wohnten ihnen die übernatürlichen Kräfte von Heiligenreliquien inne. Philip hatte in dem Mord eine politische Niederlage der Kirche gesehen, doch die Menschen in Canterbury hatten ihre eigene Erklärung: Sie hielten den Tod des Erzbischofs für ein Martyrium. Und aus dem Tod eines Märtyrers, so sehr er im ersten Moment auch als Niederlage erscheinen mochte, waren der Kirche noch immer neue Inspiration und neue Kräfte erwachsen.
Wieder musste Philip an die vielen, vielen Menschen denken, die einst zum Kathedralenbau nach Kingsbridge gekommen waren, und an die Männer, Frauen und Kinder, die die halbe Nacht geschuftet hatten, um die Stadtmauer hochzuziehen. Wenn es gelingt, die Menschen jetzt in ähnlicher Weise zum Handeln zu bewegen, dachte er mit wachsender Erregung, dann wird sich ein Schrei der Empörung erheben, der überall auf der Welt zu hören sein wird …
Philip beobachtete die Männer und Frauen, die sich mit vor Schmerz und Schrecken verzerrten Gesichtern um den Leichnam drängten. Das Einzige, was ihnen fehlt, ist einer, der ihnen die Richtung weist, dachte er.
War es möglich?
Irgendwie kam ihm die Situation vertraut vor. Eine übel zugerichtete Leiche, eine
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