Die Saga vom Eisvolk 02 - Hexenjagd
Galgen, der Henker, der Gestank des brennenden Scheiterhaufens… Sie richtete sich auf und schob die schaurige Erinnerung von sich.
»Und Tengel hat sich um uns gekümmert«, sagte sie mit warmer Stimme. »Er hat uns alles gegeben, was wir brauchten, und seitdem haben wir zusammengehalten wie eine kleine Familie - wir fünf.«
Tengel lächelte wehmütig. Er sagte nichts von seiner eigenen Einsamkeit, die viel tiefer gewesen war als ihre. Ihre Einsamkeit war äußerlich und offenkundig gewesen, seine war ein tiefer Schmerz in der Brust. Der Abstand zwischen ihm und allen anderen Menschen, die Gewißheit, daß alle seine Nähe scheuten. Er erinnerte sich schmerzvoll an die Begegnung mit Silje und Sol, wie beide zusammengezuckt waren beim Anblick seiner mächtigen, mystischen Gestalt. Und er erinnerte sich, wie schwer es ihm gefallen war, diese Begegnung zu vergessen. Wie er in seiner Einsamkeit Siljes treuherzige, schutzlose Augen vor sich gesehen hatte, wie er sich von ihr angezogen gefühlt hatte und ihre Reinheit beschützen wollte - nur um sie selbst zu beschmutzen? Nein, jetzt war er ungerecht gegen sich selbst. Er wollte sie wirklich beschützen, selbstlos und zurückhaltend. Aber als er zu seiner großen Verwunderung erkannt hatte, daß auch sie sich zu ihm hingezogen fühlte, da war sein Panzer zersprungen.
Ach, es war eine herrliche Zeit gewesen, voller Sehnsucht, Schmerz und Hoffnung, als sie sich näher kamen und gegenseitig erforschten, bis sie sich der Gefühle des anderen sicher waren. Und das ihm, der doch wußte, daß er dazu verdammt war, sich von Frauen fernzuhalten! Aber wie hätte er es fertigbringen sollen, Silje zu widerstehen?
Er lauschte wieder ihrer Erzählung. All diese Gedanken waren so schnell durch seinen Kopf gehuscht, daß ihm keines ihrer Worte entgangen war.
Sie sagte: »Dann bekamen wir Liv, das weißt du doch sicher noch, Sol?«
»Ja. Als du so krank warst.«
»Genau. Du weißt, Sol, daß du gerne Mutter und Vater zu uns sagen kannst, wenn du möchtest, denn wir fühlen uns als deine wirklichen Eltern und möchten es gerne sein.
Das Mädchen überlegte. »Das könnte ich natürlich«, nickte sie altklug. »Aber ich glaube, ich würde es komisch finden, wo ich mich doch daran gewöhnt habe, Silje und Tengel zu sagen.«
»Das verstehe ich. Und du und ich, wir haben ja schon immer miteinander reden können - wie Freundinnen. Du bist mir eine große Hilfe, weißt du.«
Sol setzte sich impulsiv auf ihren Schoß und umarmte sie ganz fest. Silje lächelte Tengel an. Sie waren als Eltern akzeptiert.
Dag sah ernst und nachdenklich aus. Sein langes, schmales Gesicht war so typisch aristokratisch, daß es beinahe zum Lachen war.
»Sucht meine Mutter nach mir?« fragte er mit dünner Stimme.
Das war eine schwierige Frage. Tengel beantwortete sie. »Das wissen wir nicht. Das einzige, was wir wissen, ist, daß deine Kleider Baronetkrönchen trugen. Deshalb glauben wir, daß du ein kleiner Baron bist. Wir haben versucht, deine Mutter zu finden, Dag, aber ich glaube nicht, daß sie noch am Leben ist.« »Ist sie an der Pest gestorben?«
»Wir nehmen es an. Wahrscheinlich hat sie dich deshalb auch verloren. Dein Vater ist jedenfalls tot.«
Es war am besten, es so auszudrücken. Alles sprach dafür, daß Dags Mutter eine unverheiratete Frau und er das Resultat einer sehr flüchtigen Verbindung war. Dag schien sich mit Tengels Erklärung zufrieden zu geben. »Meine richtigen Eltern sind tot«, sagte er andächtig. »Meine auch«, sagte Sol und schaffte es, eine Träne hervorzupressen, vermutlich weil sie den Gedanken genoß, unglücklich sein zu können.
»Ich hoffe, ihr werdet bei uns bleiben?« sagte Silje leise und ängstlich.
Beide nickten feierlich.
»Bei den anderen Kindern daheim streiten die Eltern die ganze Zeit«, sagte Dag auf seine langsame, erwachsene Art. »So, als ob sie sich nicht mögen. Aber ihr redet nie so miteinander. Bei euch ist das so, als ob ihr euch repsek… restep…«
»Respektiert?« schlug Tengel vor. »Da kannst du sicher sein, daß wir das tun.«
Sein liebevoller Blick begegnete Siljes, und sie wußte, daß auch der ihre die ganze Wärme ihres Herzens widerspiegelte.
An diesem Abend saß Silje lange auf. Sie entzündete eine der kostbaren Pechfackeln und nahm ihr Tagebuch hervor, das sie von Benedikt, dem Maler, vor so vielen Jahren erhalten hatte. Es war beinahe vollgeschrieben, und sie würde wohl kaum ein neues bekommen. Heute haben di Kinder di
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