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Die sanfte Hand des Todes

Die sanfte Hand des Todes

Titel: Die sanfte Hand des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Abbie Taylor
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tun.« Der Arzt klang noch gehetzter als zuvor. »Hier warten sieben Notfälle auf mich.«
    »Und die sind schwerer verletzt als Mrs. Rycroft?«, fragte Dawn.
    »Sie sind jünger.«

    »Jünger?«
    »Ja. In einer Nacht wie heute müssen wir Prioritäten setzen. Es tut mir leid, Schwester. Ich komme rauf, sobald ich kann.«
    Dann legte er auf. Dawn stand da, den Hörer in der Hand. Sie sah zu Mrs. Rycroft hinüber. Die alte Dame atmete stoßweiße in die Sauerstoffmaske. Ihre Kleider waren verschmutzt und zerrissen, aber man konnte noch erkennen, wie sie vor dem Unglück ausgesehen hatten. Schlichter brauner Rock, blasslila Bluse mit passender Strickjacke. An ihren Lippen klebten noch Reste von Lippenstift. Mrs. Rycroft war vielleicht nicht mehr so jung wie die Patienten, um die Dr. Grove sich kümmern musste, aber sie war immer noch eine Frau, die sich pflegte und auf ihr Aussehen großen Wert legte. Anscheinend hatte sie an dem Abend etwas unternehmen oder jemanden treffen wollen. Sie hatte ein schweres Zugunglück überlebt und es nicht verdient, an einer Komplikation zu sterben.
    Dawn legte auf und nahm den Hörer gleich wieder hoch. Sie rief den leitenden Chirurgen an.
    »Coulton.«
    Sie seufzte. Konnte es noch schlimmer werden? Sie wiederholte ihr Anliegen. »Ich weiß, wie viel Sie heute zu tun haben«, sagte sie zum Schluss, »aber es handelt sich wirklich nur um eine einfache Thoraxdrainage. Bis Sie hier sind, haben wir alles vorbereitet. Für Sie sind es nur ein paar Minuten, aber ihr kann es das Leben retten …«
    Dr. Coulton unterbrach sie. »Wer spricht da?«
    »Oberschwester Torridge.«
    »Bin schon unterwegs.«
    Zu Dawns großer Überraschung erschien er wenige Minuten später auf der Station. Sie und Trudy hatten bereits alle Vorbereitungen getroffen. Dr. Coulton horchte Mrs. Rycrofts
Lunge ab und zog sich dann ein paar Latexhandschuhe über.
    »Gleich pikst es ein bisschen«, warnte er die Patientin.
    Er griff zum Skalpell und setzte einen kleinen Schnitt unterhalb von Mrs. Rycrofts Achsel. Sie zuckte zusammen und stöhnte auf.
    »Okay, ist schon vorbei.« Dawn berührte ihren Arm. Das Stöhnen war ein gutes Zeichen; es bedeutete, dass das Gehirn der alten Dame trotz des abgefallenen Blutdrucks noch mit Sauerstoff versorgt wurde.
    Dr. Coulton weitete den Schnitt mit den bloßen Fingern. Dann führte er den Drainageschlauch ein. Seine Handbewegungen waren schnell, sicher und geübt; ganz offensichtlich kannte er die Prozedur aus dem Effeff. Er verband die Kanüle mit einem Schlauch, der in einem Wasserbehälter am Boden mündete. Das Wasser fing zu sprudeln an, während die Luft aus Mrs. Rycrofts Brustkorb entwich.
    »Der Blutdruck erholt sich«, sagte Trudy, das Stethoskop an den Ohren.
    Mrs. Rycroft schlug die Augen auf, schreckte hoch. »Was ist los? Was mache ich hier? Bin ich tot?«
    »Nein, Sie sind nicht tot«, beruhigte Trudy sie, »Ihr Zug ist verunglückt. Aber Sie werden wieder gesund.«
    »Meine Tochter!« Mrs. Rycroft versuchte sich aufzusetzen. »Wir waren verabredet. Sicher fragt sie sich, wo ich bleibe.«
    »Wir werden sie benachrichtigen«, tröstete Trudy sie. »Sobald der Drainageschlauch richtig sitzt. Sie müssen jetzt ganz still liegen bleiben.«
    Während Trudy mit Mrs. Rycroft sprach, vernähte Dr. Coulton die Wunde. Dawn reichte ihm alles, was er brauchte. Leise sagte sie: »Danke, dass Sie so schnell gekommen sind. Ich weiß, wie viel Stress Sie heute Nacht haben.«
    Dr. Coulton durchschnitt den Faden.

    »Ich muss mich bei Ihnen bedanken«, antwortete er. »Nur Ihretwegen konnten wir den Patientenansturm überhaupt bewältigen. Ihr Konzept hat für die Notaufnahme einen himmelweiten Unterschied gemacht.«
    Er setzte zum nächsten Stich an. Dawn beobachtete, wie seine Finger die winzigen Knoten knüpften. Fragte er sich gar nicht, was aus ihrem Problem geworden war? Ob sie zur Polizei gegangen war und den Erpresser angezeigt hatte? Erinnerte er sich überhaupt noch an das Gespräch? Falls ja, ließ er sich nichts anmerken. Er war ganz und gar auf seine Arbeit konzentriert. Sie arbeiteten schweigend zusammen; beide kannten den Ablauf und wussten, was als Nächstes zu tun war. Als Dr. Coulton den letzten Stich gesetzt hatte, sah er sich nach dem Verband um. Die Lampe über dem Bett leuchtete ihm direkt ins Gesicht. Seine Augenlider waren vor Müdigkeit geschwollen. Unter seinen Augen und auf der hohen Stirn zeichneten sich tiefe Furchen ab.
    »Wann haben Sie angefangen?«,

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