Die sanfte Hand des Todes

wären über Nacht alle Bewohner verschwunden. Das Radio rauschte. Harry Rowe stand auf den Stufen des St. Iberius und verlas seine Erklärung.
    »… die Geistesgegenwart unserer Mitarbeiter … Zahl der Todesopfer weit niedriger, als anfangs befürchtet …«
    Dawn hörte gar nicht zu. Sie musste wieder an ihr Geständnis denken. An das umfangreiche, fast vollständige Geständnis, in dem nur eine Kleinigkeit fehlte. Die eine Kleinigkeit, die sie dazu bewogen hatte, dem Ganzen ein Ende zu machen, ein für alle Mal.
    Sie war mit Mr. Farnley in seinem Zimmer am Ende des Korridors allein gewesen. Sie hatte gesehen, wie hilflos und verletzlich er war, und dann war ihr die E-Mail wieder eingefallen. Sobald es geschafft ist, werden Sie nie wieder von mir hören, das verspreche ich .

    Wären im selben Moment nicht die Pfleger hereingekommen … hätte sie es möglicherweise getan. Wäre sie wirklich in der Lage gewesen, einen alten, unschuldigen Mann zu töten? Sie redete sich ein, dass sie zu solch einer Tat nie im Leben fähig wäre. Aber sicher konnte sie sich nicht sein, nicht hundertprozentig.
    Wo würde es aufhören? , hatte Mandy gefragt.
    Dawn hatte immer gedacht, sie habe alles im Griff und sei anders als die anderen, gegen alle Gefahren und Versuchungen gefeit. Aber dann hatte sie den Halt verloren, und zwar viel schneller, als sie sich hätte träumen lassen. Der Zwischenfall mit Clive hatte den absoluten Tiefpunkt markiert. Sie liebte ihren Beruf noch immer über alles. Das Wohl der Patienten lag ihr am Herzen. Und deswegen hatte sie eingesehen – Gott sei Dank gerade noch rechtzeitig –, dass ihre Kolleginnen ohne sie besser dran waren.
    Der Streifenwagen hatte den Wandsworth Common erreicht. Sie hatten die Straßensperren hinter sich gelassen, auf den Gehsteigen herrschte reges Leben. Auf allen Straßen staute sich der Verkehr, und auf dem gelben Rasen des Parks tummelten sich die Spaziergänger. Dawn sah Kinder in Schuluniform und Mütter mit Kinderwagen. Ein Mann warf seinen kleinen Sohn in die Luft. Der Anblick versetzte Dawn einen Stich. Wegen Will? Sicher nicht. Kevin? Nein. Sie hatte Kevin seit einer Ewigkeit nicht gesehen. Wenn ihr irgendetwas leidtat, dann nur, dass sie ihn – und die Männer vor ihm – nicht an sich herangelassen hatte. Und wozu? Am Ende war ihr nichts geblieben.
    Sie betrachtete den sonnenbeschienenen Park, die vielen glücklichen Menschen und dachte: Ich habe mein Leben vergeudet.
    Das Auto kam direkt neben dem Mann und dem Kleinkind zum Stehen. Der Mann war groß, rothaarig und schlaksig.
Der Wind fuhr in die Haare des Kindes. Es kniff vor Vergnügen die Augen zusammen, als der Vater es in die Luft warf. Keine Frage, dass der Mann der Vater war. Beide hatten das gleiche fröhliche Gesicht, das gleiche Haar, das in der Sonne rötlich glänzte. Ungewöhnlich, dass sich Vater und Sohn dermaßen ähnlich sahen. Dawn hätte sie gerne noch länger beobachtet, aber der Wagen war schon wieder angefahren. Der Park erstreckte sich kilometerweit. Eine alte Frau zog ihren Einkaufstrolley hinter sich her. Ein Mann trug Lebensmittel in einer Tüte. Ein Junge schoss auf seinem Fahrrad vorüber. Der Morgen war wunderschön, ein Morgen ohne Zugunglück, ohne Tod und Leid. Glückliche Menschen, wohin man auch blickte. Dawn legte die Fingerspitze an die Fensterscheibe, umkreiste die Gestalten im Park. Sie nahm sie in die Hand, beschützte sie, bewahrte sie vor allem Unheil.

Abbie Taylor
    stammt aus Irland, ist Mitte dreißig und arbeitet als Ärztin. Nach »Denn niemand wird dir glauben« ist »Die sanfte Hand des Todes« ihr zweiter Roman.
    Heute lebt die Autorin abwechselnd in Irland und Großbritannien.

Die Originalausgabe erschien 2011
unter dem Titel »In Safe Hands« bei Bantam,
an imprint of Transworld Publishers,
a division of Random House UK, London.
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
    1. Auflage
    Taschenbuchausgabe April 2013
    Copyright © der Originalausgabe 2011 by Abbie Taylor
    Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2013
by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur München
Umschlagmotiv: FinePic ® , München; plainpicture/ponton
AG · Herstellung: Str.
Satz: omnisatz GmbH, Berlin
    eISBN 978-3-641-11044-4
     
     
    www.goldmann-verlag.de
     
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