Der Junge
Eins
Sie wohnen in einer Vorortsiedlung von Worcester, zwischen der Bahnlinie und der Nationalstraße. Die Straßen in der Siedlung haben Baumnamen, aber noch keine Bäume. Ihre Adresse ist: Pappelallee Nr. 12. Alle Häuser der Siedlung sind neu, und eins gleicht dem anderen. Sie stehen auf großen Grundstücken, die mit Drahtzäunen voneinander getrennt sind. Es gibt dort nur roten Lehm, auf dem nichts wächst. In jedem Hinterhof ist ein kleines Gebäude mit einem Raum und einer Toilette darin. Obwohl sie keinen Diener haben, heißt das bei ihnen »das Dienstbotenzimmer« und »die Dienstbotentoilette«. Sie nutzen das Dienstbotenzimmer als Lager für Zeitungen, leere Flaschen, einen kaputten Stuhl, eine alte Kokosmatratze.
Hinten im Hof legen sie einen Geflügelauslauf an und setzen drei Hühner hinein, die Eier für sie legen sollen. Aber die Hühner gedeihen nicht. Regenwasser, das im Lehm nicht versickern kann, steht in Pfützen im Hof. Der Auslauf verwandelt sich in einen stinkenden Morast. Die Hühner entwickeln unförmige Geschwülste an den Beinen, als hätten sie Elefantiasis. Sie wirken krank und böse und hören auf zu legen. Die Mutter fragt ihre Schwester in Stellenbosch um Rat, und die sagt, sie würden erst wieder legen, wenn man ihnen die verhornten Stellen unter der Zunge herausgeschnitten habe. Seine Mutter nimmt also die Hühner eins nach dem anderen zwischen die Knie, drückt auf ihre Kiefer, bis sie die Schnäbel aufreißen, und stochert mit der Spitze eines Schälmessers unter ihren Zungen herum. Die Hühner krakeelen und kämpfen, die Augen quellen ihnen hervor. Schaudernd wendet er sich ab. Er denkt daran, wie seine Mutter ein Stück Schmorfleisch auf den Küchentisch wirft und es in Würfel schneidet; er denkt an ihre blutigen Finger.
Die nächsten Geschäfte sind eine Meile entfernt, und man kann sie nur über eine öde Eukalyptuschaussee erreichen. Da die Mutter in diesem Kasten von einem Haus in der Siedlung eingesperrt ist, bleibt ihr nichts anderes übrig als den ganzen Tag sauberzumachen und aufzuräumen. Wenn es windig ist, wirbelt feiner ockerfarbener Staub unter den Türen hindurch in die Wohnung, dringt durch die Fensterritzen, unter dem Dachgesims und durch die Deckenfugen herein. Nach einem stürmischen Tag liegt der Staub zentimeterhoch an der vorderen Hauswand.
Sie schaffen einen Staubsauger an. Jeden Morgen zieht die Mutter den Staubsauger von Zimmer zu Zimmer hinter sich her und saugt den Staub in seinen brüllenden Bauch, auf dem ein grinsender roter Kobold in die Höhe springt wie ein Hürdenläufer. Warum ausgerechnet ein Kobold?
Er spielt mit dem Staubsauger, zerreißt Papier und beobachtet, wie die Schnitzel Blättern im Wind gleich in den Schlauch hinaufgesaugt werden. Er hält den Schlauch über eine Ameisenstraße und saugt die Ameisen in den Tod.
In Worcester gibt es Ameisen, Fliegen, eine Flohplage. Worcester liegt nur neunzig Meilen von Kapstadt entfernt, doch alles ist hier schlimmer. Über seinen Socken hat er einen Ring von Flohbissen und Narben vom Kratzen. Manchmal kann er nachts nicht schlafen, weil es so juckt. Er versteht nicht, warum sie überhaupt aus Kapstadt fortziehen mußten.
Auch die Mutter ist unruhig. Wenn ich nur ein Pferd hätte, sagt sie. Dann könnte ich wenigstens im Veld reiten. Ein Pferd! sagt der Vater. Du willst wohl Lady Godiva sein?
Sie kauft kein Pferd. Dafür kauft sie sich überraschend ein Fahrrad, ein Damenrad, gebraucht, schwarz lackiert. Es ist so groß und schwer, daß er die Pedale nicht bewegen kann, als er es im Hof ausprobieren will.
Sie kann nicht radfahren; vielleicht kann sie auch nicht reiten. Sie hat das Rad gekauft und angenommen, es wäre einfach, damit zu fahren. Jetzt findet sie niemanden, der es ihr beibringt.
Der Vater kann seine Schadenfreude nicht verbergen. Frauen fahren nicht Rad, sagt er. Die Mutter gibt nicht nach. Ich lasse mich nicht einsperren in diesem Haus, sagt sie. Ich will frei sein.
Zuerst hat er den Gedanken, daß die Mutter ein eigenes Fahrrad hat, toll gefunden. Er hatte sich sogar ausgemalt, wie sie zu dritt – die Mutter, er selbst und der Bruder – die Pappelallee hinunterradeln. Doch jetzt hört er sich die Witze des Vaters an, denen seine Mutter nur mit störrischem Schweigen begegnen kann, und er wird unsicher. Frauen fahren nicht Rad – was ist, wenn der Vater recht hat? Wenn seine Mutter niemanden findet, der ihr das Radfahren beibringt, wenn
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